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Wer hat Vorfahrt?

02.10.13 (Kommentar, Verkehrspolitik) Autor:Stefan Hennigfeld

Eigentlich könnte es so einfach sein: Der Fahrplaneinhalter hat Vorrang, während der Fahrplanverletzer sich hinten anstellen muss. Somit ist gewährleistet, dass ein Domino-Effekt nicht entsteht. Ein pünktlicher Zug wird nicht durch die Verspätungen anderer Züge ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, was dann als „Verzögerungen im Betriebsablauf“ in den Unterlagen steht. Aber Vorsicht ist geboten! Wenn ein auch verspäteter ICE die Regionalbahn Richtung Köln in Wuppertal nicht überholen darf, dann zuckelt er hinterher und es baut sich eine erhebliche Mehrverspätung auf, während er ansonsten einmal vorbeifahren könnte und dann weg wäre – weil er ohne Halt durchfährt.

Es gilt also (im Prinzip), ein gesundes Mittel zu finden, um die Betriebsstabilität insgesamt hochzuhalten. Damit ein Zug nicht wegen einer Vorleistungsverspätung zu spät abfährt oder damit nicht wegen einer fünfminütigen Türstörung am Abfahrtsbahnhof bis zum Ziel eine Verspätung von einer Stunde das traurige Ergebnis ist. Schließlich geht es ja auch um das Gesamtsystem. Die Eisenbahn ist in hohem Maße subventioniert, weil sie öffentliche Mobilitätsverfügbarkeit sicherstellt, aber dazu gehört auch zumindest eine einigermaßen annehmbare Zuverlässigkeit. Der Eisenbahnbetrieb ist komplizierter als es auf den ersten Blick erscheint. Auch wieder so eine Standardfloskel aus dem Textbaustein-Repertoire der Beschwerdestellen. Aber es zeigt, dass man nicht ex cathedra sagen kann, welcher Zug wann Vorrang haben soll.

Richtig ist aber auch, dass es gute Gründe dafür geben muss, wenn ein pünktlicher Regionalzug auf die Seite genommen wird, um einen verspäteten Fernzug durchfahren zu lassen. Die Befürchtung, dass man hier Entschädigungen vermeiden will, wie der VVS sie hat, ist da durchaus berechtigt. Aber man muss vor diesem Hintergrund auch über andere Fragen sprechen: Wenn immer wieder davor gewarnt wird, dass die Kosten für solche Entschädigungszahlungen in astronomische Höhen steigen, dann muss man sich die Frage stellen, was da eigentlich schiefläuft. Ist die Eisenbahn so konstruiert, dass Fahrpläne ohnehin nicht realistisch einzuhalten sind? Auf jeden Fall gibt es eine ganze Reihe an Engstellen im Netz, wo sich was tun muss. So sinnvoll die infrastrukturpolitische Vorgabe „Erhalt vor Ausbau“ sein mag, an manchen Punkten braucht es auch einfach erhebliche Kapazitätsausweitungen, weil man mit Mangelverwaltung nicht mehr weiterkommt.

Es gibt eine ganze Reihe an Eisenbahnknoten in Deutschland, wo es ohne großen Ausbau nicht funktionieren wird. Auch wenn man „Klein, Schnell und Billig“ für besonders nachhaltig hält, aber das Verkehrswachstum insgesamt ist so enorm, dass auch die Grundlage entsprechend angepasst werden muss. Köln ist so ein Beispiel, wo bereits kleine Verspätungen zu großen Problemen werden, die dann über den Regionalverkehr bis weit in die Region hinein strahlen und von dort nach zwei bis vier Stunden wie ein Bumerang zurückkommen. Die Eisenbahn ist als Massenverkehrsmittel konzipiert und muss deshalb auch im 21. Jahrhundert als solches vernünftig funktionieren.

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