Eisenbahnjournal Zughalt.de

Nachrichten über Eisenbahn und öffentlichen Verkehr

Realistisch in die nahe Zukunft blicken

27.06.22 (Kommentar) Autor:Stefan Hennigfeld

Wenn wir uns einmal ansehen, wie der Status Quo ist, dann mag das Bekenntnis zum Deutschlandtakt und zur Verdoppelung der Fahrgastzahlen ganz nett klingen, realpolitisch ist es aber zumindest in den kommenden zehn Jahren nicht umsetzbar. Wir leben ja bereits im Jahrzehnt der Baustellen und offensichtlich ist die Eisenbahninfrastruktur in einem so schlechten Zustand, dass sich dies noch weiter intensivieren muss.

Das heißt aber auch, dass Streckensperrungen, oft wochen- und monatelange Busersatzverkehre und andere Unannehmlichkeiten jetzt langfristig den Eisenbahnbetrieb prägen werden. Nicht mehr drei Tage zwischen Mitternacht und dem morgendlichen Berufsverkehr, sondern auf Dauer werden Sonderfahrpläne die Regel sein. Das mag irgendwann einen Deutschlandtakt vorbereiten, aber auf absehbare Zeit erstmal heißt es Baustellen- und Krisenmanagement.

Ein Blick in den real existierenden Zustand der deutschen Schiene zeigt aber auch, dass die hochtrabenden Pläne gar nicht so ohne weiteres umsetzbar sind. Wir könnten, wenn die Infrastruktur es theoretisch hergäbe, zusätzliche Züge in den Fahrplan schreiben. Wir hätten aber keine Mitarbeiter, die diese zusätzlichen Züge fahren könnten. Die Werkstätten hätten auch zumindest nicht die personellen Ressourcen, um diese zusätzlichen Züge auch vernünftig instandzuhalten.

Im Gegenteil, auf die Eisenbahnbranche rollt eine massive Verrentungswelle zu. Die geburtenstarken Jahrgänge aus der Wirtschaftswunderzeit, oft auch als Babyboomer bezeichnet, werden bis Ende der 2020er Jahre allesamt in den Ruhestand gehen und es kommen nicht genügend Eisenbahner nach. Denn man braucht ja nicht nur grundsätzlich Leute, die bereit sind, sich beruflich umzuorientieren und in die Eisenbahn zu gehen, sondern man braucht auch ausreichend Ausbildungskapazitäten.

Das gilt auch für den Nachwuchs, der direkt aus der Schule zur Schiene geht, auch hier kann der frühzeitige Kontakt mit Jugendlichen über umfassende Schulpartnerschaften gar nicht früh genug anfangen, muss aber jetzt intensiviert werden, damit man in einigen Jahren den Personalstand wieder nach oben bringen kann.

Dazu kommt, dass man aufgrund der Situation bei vielen Verkehrsunternehmen damit rechnen muss, dass künftige Verkehrsverträge entweder deutlich teurer werden oder aber dass die Beteiligung der Aufgabenträger an Kostenrisiken deutlich größer wird, was dafür sorgt, dass die langfristige Kalkulierbarkeit der Preise immer schwieriger wird. Eins steht aber fest: Wer gute Mitarbeiter will, der muss auch gute Löhne zahlen. Es wird also kein Weg daran vorbeiführen, künftig deutlich bessere Löhne zu zahlen.

Die Tarifabschlüsse werden schon aufgrund der hohen Inflationswerte bundesweit steigen, aber die Eisenbahn muss darüber noch hinausgehen, um in Zukunft ausreichend Mitarbeiter anlocken zu können. Wenn das Jahrzehnt der Baustellen die Infrastruktur vorbereitet für die Zukunft, dann muss man sich auch auf vielen anderen Ebenen vorbereiten und jetzt Maßnahmen ergreifen, nicht irgendwann.

Siehe auch: Bund und DB AG kündigen Hochleistungsnetz an
Foto: Deutsche Bahn AG / Volker Emersleben

Kommentare sind geschlossen.