Interview mit VDV-Eisenbahngeschäftsführer Martin Henke (Teil 2): Die Bundesbahn ist gescheitert
27.06.12 (Verkehrspolitik) Autor:Stefan Hennigfeld
Martin Henke (52) ist seit dem 1. April 2000 Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), zunächst für den Güterverkehr, seit 2003 für die gesamte Eisenbahn. Mit dem Eisenbahnjournal Zughalt.de sprach er über die Situation der Eisenbahn und des öffentlichen Verkehrs im Jahr 2012, den schlechten Modal Split, die Wettbewerbssituation und Diskriminierungstatbestände. Bereits gestern erschien der erste Teil.
Wir brauchen die Eisenbahn. Sie kostet uns die Hälfte des Verkehrsetats. Das Bundesverkehrsministerium hat einen Etat von rund zwanzig Milliarden Euro, davon gehen etwa zehn Milliarde Euro für die Eisenbahn drauf, dazu kommen aus anderen Töpfen sieben Milliarden Euro Regionalisierungsgelder, dazu kommen Landesprogramme für Betrieb und Investitionen, SPNV-Umlagen, wie sie zumindest im VRR erhoben werden und einiges mehr. Summa Sumarum kostet die Eisenbahn den Steuerzahler rund zwanzig Milliarden Euro im Jahr. Sie erbringt gut drei Prozent der Verkehrsleistungen im Personenverkehr und weniger als acht Prozent am Verkehrsaufkommen. Was läuft schief?
Ich glaube gar nicht, dass da soviel schiefläuft. Erstmal muss man bei den Zahlen bedenken, dass da auch die Sowieso-Kosten für das Bundeseisenbahnvermögen mit drin sind, also die Folgekosten der Deutschen Bundesbahn. Ein Beispiel sind die Lasten aufgrund der öffentlich-rechtlichen Funktionen der alten Bundesbahn und des beamtenrechtlichen Status vieler Beschäftigter. Hierfür muss die öffentliche Hand auch noch auf Jahrzehnte bezahlen, ein Ende ist derzeit nicht absehbar. Der heutige Bahnsektor darf dafür nicht haftbar gemacht werden.
Der Steuerzahler muss für die Behördenbahn länger bezahlen als diese überhaupt existiert hat.
So ist das. Das ist die Nachlassverwaltung eines gescheiterten Eisenbahnkonzeptes alter Bauart. Dass das nicht funktioniert hat, ist unbestritten, auch wenn es einzelne Nostalgiker gibt, die dahin zurück wollen. Die Beamtenbahn mit unmotivierten Mitarbeitern und disfunktionalen Strukturen kann auf keinen Fall das Maß sein und wurde daher völlig zurecht abgeschafft. Das darf man weder der DB AG noch der Eisenbahn als Verkehrsträger anlasten. Dazu muss man sagen, dass man in der Bonner Republik mit diesem, wenn auch falschen Konzept, in Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg keinen Sonderweg gegangen ist. Die schlimmen Folgen sind jedoch überall die gleichen.
Ich würde auch die Regionalisierungsmittel nicht als Subvention oder Kostenfaktor sehen, sondern das sind Bestellmittel für die Verkehrsfinanzierung. Auch die Verkehrsleistung eines PKW muss finanziert werden. Da diese Finanzierung nicht über die öffentlichen Haushalt läuft, fällt sie an dieser Stelle auch weniger auf. Aber jeder, der ein Auto hat, weiß, dass für dessen Betrieb hohe Kosten entstehen.
Aber Sie können doch mit diesen schlechten Werten nicht zufrieden sein.
Ich halte sie gar nicht für so schlecht. Sie müssen bei der Gesamtbetrachtung auch bedenken, dass gerade an neuralgischen Punkten, wo Verkehr und Verkehrsraum Knappheitsprodukte sind, etwa in Ballungsräumen, die Anteile teilweise bei über fünfzig Prozent liegen. Sehen Sie mal nach München oder Berlin, wo viele Menschen auch gar kein Auto (mehr) haben. Ohne eine relativ teure Eisenbahnleistung würde man dort auch nicht mehr auskommen.
Ein Luxushotel braucht einen funktionierenden Aufzug. Auch ein Luxusstandort wie Deutschland braucht eine Infrastruktur, die diesem hochwertigen Standort entsprechicht. Wir können natürlich unseren öffentlichen Verkehr wie in Bogota ausschließlich mit Busways abwickeln, aber ich frage mich, ob Deutschland dann der gesuchte Messe- oder der Industriestandort bleiben wird.
Oder wir versuchen, mehr Verkehr auf die Schiene zu kriegen. Wie glauben Sie, dass man das hinkriegen kann?
Da gibt es viele Aspekte. Aus meiner Sicht ist es insbesondere dadurch möglich, dass man bei der finanziellen Ausgestaltung der Rahmenbedingungen für den Nutzer etwas machen kann, etwa durch Steuergleichheit, angesprochen seien hier Luftverkehrs- und Mineralölsteuer. Wir wären dann bei der Wegekostenanlastung, da braucht es definitiv mehr Kostenwahrheit und Kostengerechtigkeit.
Wegekosten ist ein gutes Stichwort. Die Trassenpreise explodieren. Momentan haben wir sieben Milliarden Euro an Regionalisierungsgelder, dafür geht ungefähr die Hälfte für die Trassennutzung drauf. Der VRR schlägt Alarm, auch in Bayern warnt man, der NVR hat sich dem jüngst angeschlossen, die BAG SPNV hat schon vor zwei Jahren angekündigt, dass das jetzige Leistungsangebot auf Dauer nicht finanzierbar ist, wenn die Infrastrukturkosten weiterhin steigen. Der VRR geht ceteris paribus davon aus, dass die Infrastruktur im Jahr 2020 etwa achtzig Prozent des Budgets einnehmen wird. Wie sehen Sie das?
Wir sehen das Problem auch. Ich gehe aber nicht davon aus, dass es, wie vielfach behauptet wird, einfach ´Monopolgewinnabschöpfungen´ der DB AG sind. Die Bilanz der DB Netz AG zeigt keine schlüssigen Anzeichen für die Abschöpfung übermäßiger Gewinne . Wir haben sowohl im Netzbeirat als auch in unserer Arbeitsgruppe „Unbundling“ vertiefte Einblicke in die Bilanzen der DB Netz AG und auch in die Finanzbeziehungen zur Holding bekommen. Die Rendite ist bei DB Netz nicht besonders groß, vor allem wenn man übliche Kapitalkosten in Rechnung stellt. Wenn die DB AG Monopolgewinne beim Netz abschöpfen wollte, hätte sie jedenfalls bislang einen lausigen Job gemacht.
Der VDV hat allerdings seine Meinung in der Frage der Trennung von Infrastruktur und Verkehr bislang noch nicht endgültig festgelegt. Bislang tendierten wir dazu, mehrere Modelle für möglich zu halten, allerdings mit klaren Auswirkungen beim Maß der Regulierung. Unsere Meinungsfindung ist, vor allem im Blick auf das vierte Eisenbahnpaket, noch im Gange.
Sie haben aber trotzdem recht: Die Netzkosten sind hoch, steigen und belasten sehr stark. Die Margen der Verkehrsunternehmen sind, insbesondere im Güterverkehr, zu niedrig und werden noch schlechter. Das sind klare Krisensymptome.
Und den Aufgabenträgern wird mehr und mehr Liquidität entzogen.
Das ist einerseits richtig. Andererseits muss man auch dort natürlich Wege finden, wie man Kosten reduziert. Wir haben z.B. in unseren Gremien darüber geredet, wie man kostengünstiger in der Vergabe vorgehen kann. Dauerthema ist die Vereinheitlichung von Rollmaterial, an dem ist nicht nur die BAG SPNV aber bislang leider gescheitert.
Früher konnte ein VRR aus Ausschreibungsersparnissen mehr Verkehr bestellen, heute kann er damit maximal noch die Kostensteigerungen auffangen, so dass die nächste Leistungskürzung um ein Jahr verschoben werden kann.
Dazu kommt, dass die Ausschreibungsresonanz immer schlechter wird.
Zumindest im VRR ist man mit allen Vergaben seit dem Abellio-Urteil hoch zufrieden gewesen, gerade weil viele Leistungen dort – Jahrzehnte nach der Marktöffnung – zum ersten mal in den Wettbewerb gehen.
Dort schon, an anderer Stelle war man jedoch nicht zufrieden. Der Trend, dass die Ausschreibungsbeteiligung geringer wird, ist deutlich zu erkennen. Das hat verschiedene Hintergründe. Wenn Sie einen neuen Markt haben, wie das 1996 der Fall war, dann hat man naturgemäß viele Bieter, bevor dieser sich dann konsolidiert. Das Feld lichtet sich dann, dazu kommt dass die Beteiligung an einer Ausschreibung einen zumindest sechsstelligen Betrag für die Erarbeitung eines Angebotes erfordert.
Aber Sie können doch, unabhängig von der Marktsituation, nicht sagen, dass man die Ausschreibungsersparnisse zur Kompensation von Kostensteigerungen nehmen soll. BEG-Geschäftsführer Fritz Czeschka fordert, die Infrastrukturgebühren vollständig von den Regionalisierunsggeldern zu entkoppeln, NVR-Geschäftsführer Norbert Reinkober hat sich dem angeschlossen und selbst Heinrich Brüggemann von DB Regio NRW sieht „ganz viel richtiges“ an diesem Vorschlag.
Sie können in der Tat nicht – erst recht nicht auf Dauer – die dort tatsächlich und unbestritten vorhandenen Kostensteigerungen ausschließlich über Ausschreibungsersparnisse auffangen. Der Vorschlag, dass man diese Kosten vor die Klammer zieht, ist diskutabel. Wenn das politisch durchsetzbar ist, wäre das eine gangbare und saubere Lösung.
Sie haben gerade gesagt, es gibt immer weniger Bewerber. Norbert Reinkober sagt, dass ein Problem sei, dass die kommunalen Big Player wie KVB, Bogestra oder Münchener Verkehrsgesellschaft nicht mehr in den SPNV expandieren dürfen, weil sie unter die strengen Inhouse-Regelungen der Europäischen Verordnung 1370/07 fallen. Wie sehen Sie das?
Es ist natürlich ein Problem, wenn Sie durch ordnungspolitische Bestimmungen potentielle Akteure aus dem Markt kegeln. Ich bin sicher, dass etwa die KVB ohne weiteres das Know-How hätte, eine Mittelrheinbahn oder einen Rhein-Sieg-Express zu betreiben. Aber man muss sich auch vergegenwärtigen, dass sich für die kommunalen Unternehmen die Frage stellt, ob Ihnen die Sicherung ihres Heimatmarktes im ÖPNV, der ihnen die eigentliche Existenzberechtigung bietet und für den sie durch Restrukturierungen viele Opfer gebracht haben, nicht wichtiger ist als Zusatzgeschäfte im SPNV. Beides zusammen geht nach dem Kommunalrecht in der Regel nicht. Per Saldo überwiegt an dieser Stelle die Einschätzung, sich auf die Inhouseerbringung im Heimatmarkt zu konzentrieren. Aber es ist ohne Zweifel bedauerlich, dass hier eine ganze Reihe potentieller Wettbewerber nicht im Markt sind.
Die Analyse zurückgehender Beteiligung an SPNV-Ausschreibungen betrifft jedoch nicht nur die Stadtwerkekonzerne, sondern auch den privaten Bereich. Auch dort hat es eine verringerte Beteiligung gegeben. Es findet im SPNV-Markt derzeit eine natürliche Konsolidierung statt, wie sie sich in neuen Märkten einfach ergibt. Einige Mitbewerber wurden zudem einfach aus dem Markt gekauft .
Das hat aber auch viel mit den Kosten einer Ausschreibungsbeteiligung zu tun und übt viel Druck vor allem auf die mittelständischen Unternehmen aus. Es war schon vor fast zehn Jahren so, dass Basel I und die Finanzierungsrestriktionen für die Banken sich auf den Schienengüterverkehr auswirken. Mittlerweile gibt es Basel II und Basel III, die sich auswirken, ebenso wie die Finanz- und Staatsschuldenkrise. Die Zurückhaltung des Risikokapitals, der großen Fonds, die mit Venturekapital in den Markt gegangen sind, ist mit Händen greifbar.
Allerdings hat sich erst jüngst ein kanadischer Pensionsfonds verstärkt bei Keolis engagiert.
Ich kann das auch gut verstehen, da es sich um eine rationale Anlagestrategie handelt, in den Bahnbereich zu gehen. Leider sind nicht alle Financiers rational, manche auch nicht liquide. Wir argumentieren Investoren gegenüber auch so, dass unsere Branche zwar keine riesigen Renditen erwirtschaftet, dafür aber große Konstanz und Sicherheit bietet. Wenn man richtig kalkuliert, dann hat man ein berechenbares Geschäftsmodell. Das betrifft im übrigen auch und gerade Fahrzeugfinanzierungen im SPNV.
Gerade auf diesem Feld könnte ich mir vorstellen, dass so etwas für Versicherungen sehr interessant wäre. Diese suchen händeringend nach moderat verzinsten, aber dauerhaft belastbaren Investitionszielen.
Könnte das auch bei Herrn Husmanns Überlegungen, eine Besitzgesellschaft gründen zu lassen, mit drinstecken?
Das wäre möglich und auch nachvollziehbar. Sie sehen ja auch im Güterverkehr Private Equity-Kapital, das in diesen Markt geht. Es gibt dort sogar geschlossene Fonds, die man zeichnen kann, die in Fahrzeugflotten investieren.
So wie es Schiffsfonds gibt könnte es auch Zugfonds geben?
Die gibt es bereits. Es gibt heute schon geschlossene und offene Fonds, die in Züge investieren. Was im Güterverkehr bereits seit längerer Zeit Gang und Gäbe ist, müsste es auch im SPNV geben, denn dort ist das Risiko deutlich geringer. Bei vernünftigen Ausschreibungszeiträumen haben Sie im Prinzip nur zwei wirtschaftliche Nutzungszeiträume für ein Fahrzeug. Sie haben also nur einmal das Risiko eines Neueinsatzes. Bei Schiffsfonds oder im Güterverkehr gibt es viel häufiger Einsatzrisiken; ebenso bei Fonds, die auf ganz andere Investitionsgüter setzen.
Lesen Sie den dritten Teil des Interviews. VDV-Eisenbahngeschäftsführer Martin Henke spricht über die Marktsituation und das Verhältnis zwischen Aufgabenträger und Infrastrukturbetreiber.