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Stuttgarter Netz AG: Die nächsten Schritte – Eisenbahn statt Immobilienwahn

23.11.11 (Stuttgart) Autor:Niklas Luerßen

Wie bereits längst bekannt ist, möchte die DB Netz AG nach Fertigstellung des Tunnelbahnhofs Stuttgart 21 (S 21) den Kopfbahnhof mitsamt dem Gleisvorfeld vollständig zurückbauen. Dieser Wille hatte sich mit dem Verkauf der Bahngrundstücke im Bereich Stuttgart Hbf, Abstellbahnhof Rosenstein und der Panoramabahn an die Stadt Stuttgart im Jahre 2001 de facto manifestiert. Aus diesem Grund haben sieben Firmen bzw. Privatpersonen die Stuttgarter Netz AG (SNAG) am 03.08.2011 gegründet.

Die SNAG ist der Ansicht, dass das Vorhaben der DB Netz AG bzw. des DB-Konzerns rechtswidrig ist und für das gesamte deutsche Eisenbahnnetz durch die Schaffung eines künstlichen Engpasses einen nicht wiedergutzumachenden Schaden bedeuten würde. Die SNAG hat sich deshalb dazu entschlossen, die DB Netz AG dazu zu zwingen, das rechtlich vorgeschriebene Stilllegungsverfahren für die Infrastruktur des oberirdischen Kopfbahnhofes durchzuführen. Sie steht bereit, wenigstens Teile des Kopfbahnhofes zu übernehmen und weiter zu betreiben, sofern die DB Netz AG daran kein Interesse mehr haben sollte.

Die SNAG ist mit der Eintragung in das Handelsregister am 17.10.2011 rechtsfähig geworden.
Seit einigen Wochen wird seitens der SNAG im Hintergrund mit Hochdruck an der Erstellung einer Klageschrift gearbeitet. Diese Klageschrift wird sich gegen das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) als zuständige Aufsichtsbehörde der DB Netz AG richten. Bevor die Klageschrift eingereicht werden kann, muss zwingend die Behörde zum Tätigwerden aufgefordert werden. Das entsprechende Schreiben haben die bevollmächtigten Anwälte der SNAG, die Rechtsanwaltskanzlei Orth Kluth mit Sitz in Düsseldorf und Berlin, gestern abgesandt. Es handelt sich dabei um eine reine Formsache. Die Nichtbeachtung dieser Formvorschrift hätte allerdings die Unzulässigkeit der Klage zur Folge gehabt.

Was werden die nächsten Schritte sein?
Das EBA hat drei Monate Zeit, auf das Schreiben der SNAG zu reagieren. Sollte das EBA einen Zwischenbescheid erlassen oder eigene Gutachten einholen, könnte sich das der Klage vorgeschaltete Verfahren noch weiter hinziehen. Die eigentliche Feststellungsklage, die sich gegen das EBA richtet und die bei dem Verwaltungsgericht Köln einzureichen ist, kann also frühestens im Februar 2012 erhoben werden. Die SNAG rechnet mit einer Verfahrensdauer bis mindestens 2017 bei vollständiger Ausschöpfung des Rechtswegs.

Worauf wird sich die Klage der SNAG stützen?
Auf zwei Normen des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG). Nachdem die DB AG bereits vor einigen Wochen zugestanden hat, dass sie für sämtliche Flächen im Bereich des Stuttgarter Hauptbahnhofes vor einer eventuellen Umnutzung ein Freistellungsverfahren gemäß § 23 AEG durchführen muss, geht es noch um § 11 (Stilllegungsverfahren) und § 18 AEG (Plangenehmigungs- bzw. Planfeststellungsverfahren). Die SNAG ist der Überzeugung, dass die DB Netz AG für die auf den Kopfbahnhof Stuttgart Hbf zu führenden Teilstrecken ein Stilllegungsverfahren nach § 11 Abs. 1 AEG durchführen muss, sofern sie diese im Zuge der Inbetriebnahme des unterirdischen Tiefbahnhofes S 21 nicht mehr weiter betreiben möchte. Das gleiche gilt für die Gleisanlagen des oberirdischen Stuttgarter Hauptbahnhofes selbst einschließlich des Bahnhofsteiles Abstellbahnhof Rosenstein. Der neu zu bauende Tiefbahnhof ersetzt keineswegs den oberirdischen Kopfbahnhof, sondern er stellt diesem gegenüber ein „aliud“, also etwas anderes, und insbesondere ein „minus“, also ein Weniger, dar.

Zum einen bedeutet der geplante Verzicht auf stationäre Signalanlagen und Ausrüstung der Tunnelstrecken ausschließlich mit dem europäischen Zugsicherungssystem ETCS ein Zugangshemmnis, weil jedes Fahrzeug zusätzlich damit ausgerüstet werden muss, was zu Kosten in Höhe von 250.000 bis 400.000 Euro pro Fahrzeug führt. Ein Zugangshemmnis stellt auch das Verbot von Dieseltraktion dar, das beispielsweise zu einer erheblich verschlechterten Verkehrsbedienung für die Städte und Gemeinden im Zollern-Alb-Kreis und im Landkreis Sigmaringen führen wird. Die Durchbindung der zweistündlich verkehrenden IRE-Züge Stuttgart – Sigmaringen – Aulendorf wäre zukünftig nicht mehr möglich, da die Teilstrecke Tübingen – Albstadt – Sigmaringen – Aulendorf nicht elektrifiziert ist und eine Elektrifizierung noch nicht einmal geplant ist. Die Einwohner von Rottenburg, Mössingen, Hechingen, Balingen, Albstadt, Sigmaringen, Mengen, Herbertingen und Bad Saulgau würden also nicht mehr umstiegsfrei in die Landeshauptstadt gelangen können und müssten in Tübingen umsteigen. In der Summe wären knapp 170.000 Einwohner negativ betroffen. Zudem würde der Bau des Tiefbahnhofes bei Wegfall des oberirdischen Kopfbahnhofes zu einem künstlichen kapazitiven Engpass führen, der negative Auswirkungen auf das gesamte deutsche Eisenbahnnetz hätte.
Die Kapazitätsverschlechterungen sind mittlerweile durch diverse Gutachten und Berechnungen nachgewiesen. Beispielhaft soll hier das Gutachten „Stuttgart 21 und Kopfbahnhof 21 – Vergleichende Analyse der Reisezeiten“ von SMA und Partner AG vom 26.10.2010 herausgegriffen werden: Durch Stuttgart 21 werden 13% der Reisenden im Nahverkehr in Baden-Württemberg langsamer unterwegs sein als beim heutigen Zustand, bei dem optimierten Kopfbahnhof („K21“) wären es nur 6%.

Die Anwendbarkeit des § 11 Abs. 1 AEG führt dazu, dass die DB Netz AG die auf den Kopfbahnhof zuführenden Teilstrecken und den Bahnhof selbst zur Abgabe und Übernahme an interessierte Dritte bundesweit ausschreiben müsste. Sollte die SNAG den Rechtsstreit gewinnen und die Ausschreibungspflicht der DB Netz AG festgestellt werden, so wird die SNAG einen Prospekt herausgeben und Aktien emittieren, um sich auf diesem Wege das benötigte Kapital zum Betrieb des Kopfbahnhofes bzw. von Teilen davon zu beschaffen.

Sollte die SNAG mit ihrem Antrag auf Feststellung der Pflicht zur Durchführung des Stilllegungsverfahrens im Rahmen des § 11 AEG unterliegen, bleibt die Verpflichtung der DB Netz AG zur Durchführung des Freistellungsverfahrens nach § 23 AEG unabhängig davon bestehen. Nachdem die DB AG eingeräumt hat, dass sie ein Freistellungsverfahren für alle Bahnanlagen im Bereich des oberirdischen Kopfbahnhofes durchführen muss, wird die SNAG weiterhin auf die Feststellung klagen, dass es der DB Netz AG nicht erlaubt ist, sich den Rückbau der Gleise in einem vorgeschalteten Plangenehmigungsverfahren gemäß § 18 AEG genehmigen zu lassen. Dies ist seit dem sogenannten „Wiehltalbahn-Urteil“ vom 07.07.2008, das zur Reaktivierung einer rechtlich schon stillgelegten Bahnstrecke im Zuge des Freistellungsverfahrens geführt hat, gängige Praxis bei der DB Netz AG geworden.
Die eingeschränkte Öffentlichkeitsbeteiligung im Zuge des Plangenehmigungsverfahrens gemäß § 18 AEG führt dazu, dass die DB Netz AG Strecken- und Bahnhofsinfrastruktur von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt zurückbaut. Das anschließende Freistellungsverfahren nach § 23 AEG geht dann anschließend glatt durch, denn wo keine Gleise mehr liegen, gibt es auch nichts mehr zu reaktivieren. Die DB Netz AG handelt bei diesem Vorgehen rechtswidrig, denn § 18 AEG dient dem Bau von Bahnanlagen. Für die Stilllegung und den Rückbau von Gleisanlagen sind alleine die insoweit spezielleren §§ 11, 23 AEG einschlägig. Das bedeutet, dass Gleisinfrastruktur erst dann zurückgebaut werden kann, wenn das Freistellungsverfahren nach § 23 AEG erfolgreich abgeschlossen ist.

Die SNAG nimmt die Pläne der Stadt Stuttgart und des Einkaufszentrum-Betreibers ECE zur Kenntnis, die Flächen des oberirdischen Kopfbahnhofes bebauen zu wollen. Für die Frage des Betriebs und der Stilllegung bzw. Freistellung von Eisenbahninfrastruktur ist die Eigentümereigenschaft hinsichtlich der damit verbundenen Grundstücke jedoch irrelevant. Die SNAG macht daher darauf aufmerksam, dass sich diese Pläne voraussichtlich nicht in der beabsichtigten Form umsetzen lassen und dass dahingehend eine grundsätzliche Rechtsunsicherheit bis mindestens 2017 besteht. Die Aktionäre der SNAG sind nämlich willens und finanziell in der Lage, den anstehenden Rechtsstreit bis zum Ende auszufechten.

Torsten Sewerin, Vorstand der SNAG: „Wir werden es nicht zulassen, dass der funktionierende Bahnknoten Stuttgart, einer der wichtigsten im süddeutschen Raum, aufgrund von profanen wirtschaftlichen Interessen irgendwelcher Konsortien durch einen dauerhaften kapazitiven Engpass im deutschen Eisenbahnnetz ersetzt wird.“

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