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Realistische Betrachtung statt utopischer Ziele

21.10.21 (Kommentar) Autor:Stefan Hennigfeld

Planungen für die nächsten Jahrzehnte sind im Eisenbahnwesen nichts neues: Wer erinnert sich nicht an diverse regional vorgegebene Zielnetze der Jahres 1990 oder 2005?! Viele Planungen für Leistungsausweitungen und Angebotsverbesserungen auf der Schiene werden nun seit einem halben Jahrhundert und mehr für „in zehn oder in zwanzig Jahren“ versprochen. Manchmal ist man erstaunt, wie sehr ein im Keller gefundenes „Zielnetz 1990“ einem aktuellen „Zielnetz 2035“ ähneln kann – ob in Baden-Württemberg oder woanders in der Republik.

Manche Linien vom Stundentakt auf einen Zehn-Minuten-Takt umstellen zu wollen, ist leichter gefordert als tatsächlich organisiert. Das Ziel, die Fahrgastzahlen bis zum Jahr 2030 zu verdoppeln, ist einst unter Rüdiger Grube von der DB AG ausgegeben worden, man hat es aber längst wieder beerdigt. Anstatt auf rasantes Umsatz- und Fahrgastwachstum zu setzen, hat man dort realistischere Zielmarken gefunden, weil absurde Utopien zwar schön sind, aber ein Unternehmen muss sich an realistischen Prognosen orientieren.

Das wäre auch für die Politik in Baden-Württemberg empfehlenswert. Tatsächlich sind Busse und Bahnen seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang letzten Jahres in eine schwere Krise gefahren. Die Zeiten, dass die Fahrgastzahlen jedes Jahr steigen und ein Kostendeckungsgrad von hundert Prozent greifbar schien, sind vorbei. Monatstickets werden gekündigt, die Verbünde reagieren mit neuartigen Angeboten, um die ehemaligen Vielfahrer als Gelegenheitsfahrer zu halten.

Auch in drei oder fünf Jahren wird die Arbeit von Zuhause aus unser Leben deutlich mehr bestimmen als es 2019 noch erschien. Lange Zeit diskutierte man über das Recht auf Heimarbeit und über die Frage, ob dies nicht umgekehrt dazu führe, dass aus der Heimarbeit eine dauerhafte Abrufbereitschaft werden könne und welche Vor- und Nachteile das alles hat. Dann kam Corona und die Menschen blieben zuhause. Auch in Zukunft wird es nicht mehr die Regel sein, dass jemand täglich ins Büro fährt, wenn er genau das gleiche auch am heimischen Computer leisten kann.

Entsprechend unrealistisch ist eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen in den kommenden neun Jahren geworden. Viel eher sollte man jetzt, am Beginn einer neuen Legislaturperiode, eine realistische Bestandsaufnahme machen: Die Eisenbahnverkehre werden in Zukunft teurer, die Risiken, die in den Verkehrsverträge liegen, werden neu aufgeteilt und können nicht mehr allein an die Betreiber abgewälzt werden.

Niemand weiß, ob die Ende 2017 zuhauf vorhandenen nicht verausgabten Regionalisierungsgelder inzwischen durch die Einnahmeausfälle in der Pandemie aufgezehrt worden sind oder ob sie sich weiter aufgehäuft haben: Was kostet der Verkehr in Zukunft und wie hoch ist das zur Verfügung stehende Budget? Darauf basierend muss man sich Gedanken machen, welches Angebot in einer sich verändernden Arbeitswelt notwendig ist und welche Zielmarken es zu definieren gilt. In Baden-Württemberg wurde man von der Realität bereits überholt.

Siehe auch: BaWü: ÖPNV-Strategie 2030 vorgestellt
Foto: viarami

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