Das Potential der Eisenbahn nutzen
21.10.24 (Kommentar) Autor:Stefan Hennigfeld
Die Eisenbahn hat mehr Potential als viele autofixierte Verkehrspolitiker es annehmen. Der Schaden, den die alte Behördenbahn mit ihren zahlreichen Streckenschließungen angerichtet hat, lässt sich so ohne weiteres nicht beheben. Aber in der Regel sind die Reaktivierungsprojekte, die man seit dem Start der Eisenbahnreform vor dreißig Jahren in Angriff genommen hat, allesamt erfolgreich und oft sind die Fahrgastzahlen deutlich höher als selbst in besonders optimistischen Gutachten vorhergesagt wurde. Wenn das Angebot stimmt, dann kommen die Fahrgäste.
Oftmals nicht mit eingerechnet wird der Nutzen, den eine Streckenreaktivierung durch (geringfügigen) Güterverkehr mit sich bringt. Wenn so manch eine Firma nicht mehr mit zwanzig Lastwagenfahrten in der Woche, sondern mit einer Zugfahrt angebunden wird, besteht auch hier ein erheblicher gesamtwirtschaftlicher Nutzen. Es spricht also einiges dafür, möglichst viele Eisenbahnstrecken zu reaktivieren und für den Personen- und Güterverkehr wieder in Betrieb zu nehmen. Doch wir müssen auch die realistische Situation betrachten.
Stellen wir uns vor, hier wird eine Strecke reaktiviert und der Betrieb im Stundentakt neu ausgeschrieben. In einer Situation, in der nahezu alle Marktakteure wegen Personalmangel nicht einmal ihre bestellten Soll-Fahrpläne einhalten können, wird sich wohl kaum an der Ausschreibung für eine neue Strecke beteiligen, sondern erst die Probleme in ihrem Bestandsnetz lösen müssen. Es gibt branchenweit zu wenige Lokomotivführer und dieser Trend steigert sich weiter. Noch immer gibt es jede Menge Arbeitnehmer über 55, die bis 2035 in den Ruhestand eintreten werden – wer seine 45 Beitragsjahre voll hat, wird auch nicht bis 67 auf der Lok sitzen, zumal das bei dem körperlich anspruchsvollen Vielschichtsystem ohnehin nicht unproblematisch sein dürfte.
Gleichzeitig kommen immer weniger Leute aus den Schulen und Quereinsteiger aus anderen Berufen kann man zwar ausbilden, aber auch die muss man erst mal dazu bringen, langfristig bei der Eisenbahn zu bleiben. Dann hören wir immer wieder das Narrativ, dass die Regionalisierungsgelder nicht ausreichend würden, um auch nur den Bestandsbetrieb dauerhaft zu erhalten. Man muss daher die Frage stellen, wie man gedenkt, den Betrieb auf reaktivierten Strecken zu finanzieren, wenn doch schon im Bestandsnetz Abbestellungen drohen sollen.
Wobei es ja auch eigentlich passt: Wenn die Aufgabenträger aus finanziellen Gründen das Volumen der erbrachten Zugkilometer reduzieren müssen, die Eisenbahnverkehrsunternehmen aber ohnehin nicht genügend Personalkapazitäten haben, die bisherigen Sollfahrpläne zu erfüllen, dann erledigt sich die die Debatte um Reaktivierungen womöglich schneller als man denkt. Aber das heißt nicht, dass jetzt alle Reaktivierungspläne ad acta gelegt werden sollen, bis die Bestandsnetze unter Kontrolle sind, sondern auch hier sind Vorratsplanungen sinnvoll und können für eine mittel- und langfristige Verbesserung sorgen. Deshalb Ja zu mehr Reaktivierungsplänen.
Siehe auch: Verbände fordern umfassendes Reaktivierungsprogramm
Foto: danielkirsch