Vorfahrt für die Oberleitung
25.04.24 (Kommentar) Autor:Stefan Hennigfeld
Es ist zunächst einmal richtig und wichtig anzuerkennen, dass wir eine Elektrifizierungsoffensive brauchen. Nicht irgendwelche Hokuspokustechnologien, die im Regelbetrieb überhaupt nicht erprobt sind, können zur Dekarbonisierung des Eisenbahnverkehrs beitragen, sondern nur deutlich mehr Oberleitungen. Diese muss mittelfristig nicht nur auf zweigleisigen Hauptstrecken, sondern auch auf eingleisigen Nebenstrecken die Regel sein.
Wenn es technische Konzepte gibt, dies vereinfacht zu erreichen, indem man z.B. bei einer Reaktivierung nur noch eine Höchstgeschwindigkeit von achtzig Kilometern die Stunde nimmt, dann ist das nur richtig und vernünftig. Hier muss man aber noch einen anderen Ansatz sehen: Wir sprechen ja im Zusammenhang mit den Reaktivierungen nicht nur vom Nahverkehr, sondern auch darüber, dass geringfügiger Güterverkehr auf einer solchen Eisenbahnstrecke gemacht werden kann. Eine Güterzugfahrt in der Woche ersetzt dreißig bis fünfzig Lastwagenfahrten. Umso wichtiger ist, dass solche Güterzüge bis an den Gleisanschluss in elektrischer Traktion fahren können, sodass auch hier auf die Diesellokomotive verzichtet werden kann.
Nehmen wir als Beispiel ein ganz konkret diskutiertes Reaktivierungsprojekt: Die mittlere Ruhrtalbahn zwischen Witten-Bommern und Hattingen an der Ruhr. Hier würde eine Linie fahren, die vermutlich von Essen nach Hattingen über die bestehende Strecke fährt, dann weiter über die zu reaktivierende Ruhrtalbahn und dann von Witten-Bommern an bis Hagen-Vorhalle über die Güterzugstrecke und weiter in den Hagener Hauptbahnhof. Ein Großteil der zu befahrenden Strecke ist bereits heute elektrifiziert.
Wenn man es im Rahmen einer möglichen Reaktivierung schafft, auf dem derzeit nur museal betriebenen Mittelstück eine Oberleitung aufzuhängen, könnte man diese neue Linie mit konventionellen Elektrotriebzügen fahren. Schnell als achtzig Kilometer pro Stunde würde man dort ohnehin nicht fahren können, der hin und wieder dort anzutreffende Museumszug fährt oft nur mit etwa dreißig Kilometern pro Stunde an der Ruhr entlang.
Der Vorschlag von Martin Henke, hier vereinfacht vorzugehen und sich an die geringere Streckengeschwindigkeit anzupassen kann daher einer der Faktoren sein, der die Elektrifizierung vereinfacht. Und auch das leidige Thema Kosten-Nutzen-Bewertung spielt eine Rolle: Ja angeblich wollen wir doch den Verkehr dekarbonisieren, wieso also sagen wir nicht, dass Oberleitungen per se wirtschaftlich und vernünftig sind?
Zumindest sind sie sinnvoller als Akkuzüge oder Wasserstoffantrieb, von denen niemand weiß, wie sich diese Züge in mehreren Jahrzehnten des Einsatzes verhalten werden. Im Taunusnetz in Hessen sehen wir, wie schnell Wasserstoffzüge zu chaotischen Zuständen führen können. Wir wissen zudem nicht, wie lange so ein On-Board-Akku hält. Was passiert, wenn der Zug regelmäßig nachmittags liegenbleibt, weil die Akkuleistung nachlässt? Wer ist dann verantwortlich? Da erscheint die seit langem erprobte Oberleitung doch deutlich zuverlässiger.
Siehe auch: Verbände fordern Elektrifizierung
Foto: Deutsche Bahn AG / Wolfgang Klee