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Der Brite wehrt sich

01.12.16 (Großbritannien & Irland, Kommentar) Autor:Max Yang

Die Briten werden aus ausländischer Sicht häufig als höflich, distanziert und diskret wahrgenommen. Auch wenn einem Insulaner Unrecht widerfährt, sollen gemäß traditioneller Erziehung zunächst Emotionen zurückgehalten und die Haltung bewahrt werden – „stiff upper lip“, die „steife Oberlippe“ ist das Stichwort. Und wenn ein U-Bahn-Fahrgast in London einem anderen versehentlich auf den Fuß tritt, sei laut einschlägiger Reiseliteratur die richtige Reaktion, dass beide Beteiligten „Sorry“ sagen, was „Oh, mir ist ein Missgeschick passiert“ genauso bedeuten kann wie „Pass doch auf, wo du hinlatschst“.

Doch wer einen Blick jenseits der Königshaus-, Telefonzellen-, Routemaster- und Nachmittagstee-Klischees wagt, stößt auf eine weniger bekannte andere Seite der britischen Seele. Das inoffizielle Motto der südenglischen Region Sussex im örtlichen Dialekt ist „we wunt be druv“, was in der englischen „Hochsprache“ mit „we will not be driven around“ umschrieben werden könnte. Ein Sussexer schätzt seinen eigenen sturen Kopf und lässt sich nicht von jedem neunmalklugen Hauptstädter sagen, wie er leben soll. Allgemein kommt in Großbritannien noch hinzu, dass nicht nur die „Captive Rider“ (früher auch als die fünf großen As bekannt) den ÖPNV verwenden, sondern durchaus auch besser situierte Bürger, die – mag man es gut finden oder nicht – besser medial vernetzt sind und Zugriff auf mehr Ressourcen haben.

Wenn auch die potentiellen politischen Motive in Großbritannien (Gewerkschaften brechen) sicher ganz andere sind als die, die in Deutschland bei der Berliner S-Bahn-Krise die Politik gelähmt haben, die Argumente, die Untätigkeit und Überforderung verdecken sollen, ähneln sich hier wie da: Höhere Gewalt, man konnte es ja nicht ahnen, wir wissen von nichts. Dennoch erkennt man, dass die „Association of British Commuters“ einen guten und pragmatischen Kurs eingeschlagen hat. Sie hat es bisher vermieden, das eisglatte Feld der Allgemeinpolitik zu betreten. Die ABC arbeitet sachorientiert daran, den Druck auf die zuständigen Politiker zu erhöhen und kurzfristig eine Verbesserung der Situation für die Anwohner zu sichern.

Das erfolgreiche Einwerben von 25.000 britischen Pfund an Spenden für die Einleitung eines Gerichtsverfahrens ist ein erster Achtungserfolg und ein Vorbild für andere interessierte Vereine im Rest Europas. Würde man sich vereinnahmen lassen und laut nach der Rückkehr der Beamtenbahn rufen, wäre die Attraktivität für so einige Spender vielleicht dahin. Überhaupt gefährdet das derzeitige Missmanagement das britische SPNV-Modell, das 2010 vom Europäischen Fahrgastverband noch als ein Vorbild für andere Staaten benannt wurde. Der britischen Politik muss klarwerden, dass das Aussitzen von Problemen nicht sinnvoll ist, will sie glaubwürdig die Abhängigkeit vom PKW in den Regionen lösen. Übrigens könnte sich vom insularen Gemeinschaftsgeist auch der Berliner an und für sich eine Scheibe abschneiden. Politik ist zwar das Bohren dicker Bretter, irgendeiner muss aber damit anfangen, damit nicht immer die selben mit den Rezepten von gestern die Probleme von morgen zu lösen versuchen.

Siehe auch: UK: Southern-Dokumente nicht offengelegt

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