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Minenfeld Ticketing

20.10.16 (Kommentar, Verkehrspolitik) Autor:Max Yang

Neulich war ich wieder in Polen. Nicht in der Hauptstadt oder einer der Urlaubsorte am Meer, sondern in Oberschlesien. Seit zwölf Jahren gibt es bereits Nahfunk-Karten der regionalen Busunternehmen, auf die zunächst nur Zeitkarten aufgeladen werden konnten, und die ausdrücklich auch mit dem Ziel eingeführt wurden, die Nutzung der Dienste zu messen. Dort empört sich keiner darüber, vermeintlich verwanzt zu werden, vielmehr freut man sich darüber, dass die Unternehmen nun untereinander zwecks Einnahmenaufteilung gut kooperieren können.

Ich bin ein großer Freund des Ansatzes, die Kirche erst mal im Dorf zu lassen. Sicher hat die deutsche Vorsicht vor neuer Technik auch schon manche Probleme verhindern geholfen. Genauso wenig sinnvoll wie halbfertige und unsichere Produkte auf den Markt werfen ist aber auch eine frei gewählte Selbstverzwergung. Die altehrwürdige Hamburger Hochbahn publizierte im April 2016 einen Artikel unter dem Titel „Überall is‘ besser als wie hier“ zum Vertrieb.

Die Automaten des kommunalen Hamburger Verkehrsbetriebs akzeptieren nur Bargeld und das allgemein kaum genutzte Prepaidsystem GeldKarte. Eine Umrüstung lohne nicht, „weil der Deutsche das so macht“ und kleinere Beträge selten mit Karte gezahlt würden. Ganz so schlecht, wie man denke, stehe man aber nicht da. Der Blick gehe vielmehr viel weiter, weil man mit einer App im Jahr 2018 – wenn man die 30 Verkehrsunternehmen des HVV umgerüstet habe – ein Check-in-System einführen werde.

Ich finde es persönlich sehr mutig, wenn die Hochbahn tatsächlich davon ausgeht, dass ausschließlich Deutsche das „Tor zur Welt“ Hamburg besuchen (die Ortsansässigen haben ja meist eine Zeitkarte). Die Deutsche Bahn ist da schon weiter. Sie kann ein Liedchen davon singen, was hohe Bargeldbestände in Automaten bedeuten können. Von Kriminellen aufgebrochene Automaten, die dann wochenlang außer Betrieb sind, sind nicht nur in der Bundeshauptstadt ein Ärgernis.

Aber was heißt das, wenn der kommunale Verkehrsbetrieb der zweiten Stadt Deutschlands die Vertriebstechnik nicht auf den heutigen Stand bringt, sondern naiverweise darauf hofft, dass sie irgendwann komplett verzichtbar wird? (Denn es wird immer Kunden ohne Smartphone, mit bestimmten Sonderwünschen usw. geben, für die eine App nicht die Lösung ist.) Aktive Marktentschließung scheint für viele B2C-Dienstleister in Deutschland ein völlig fremdes Konzept zu sein.

Anders im B2B-Bereich. Obwohl in Deutschland Unternehmen wie Krauth, Scheidt & Bachmann oder Trapeze Standorte betreiben und dort moderne Vertriebstechnik für den Export produzieren, ist es für die Glaubwürdigkeit des Standorts Deutschland ein Problem, wenn Kommunen und Verkehrsunternehmen nicht investieren und etwa in Berliner Straßenbahnen nach wie vor nur Hartgeld angenommen wird. Übrigens: Arbeit für Wettbewerbshüter gibt es in anderen Bereichen mehr als genug. Der Dauerbrenner „Sparpreisverfügbarkeit“ ist immer noch ein unkalkulierbares Risiko für Neueinsteiger im Schienenpersonenfernverkehr in Deutschland. Wir dürfen gespannt sein, ob etwas passiert und was genau.

Siehe auch: Neue „girocard kontaktlos“ unsicher?

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