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Die weiße Fahne wird gehisst

21.09.15 (Berlin, Kommentar) Autor:Max Yang

Früher sprachen böse Zungen immer von den vier oder fünf großen A, wenn es um den Nutzerkreis öffentlicher Verkehrsmittel ging. Der ÖPNV sei die Domäne von Armen, Alten, Arbeitslosen oder Auszubildenden, während Erwerbstätige schnell und komfortabel im eigenen Auto unterwegs sind. Glücklicherweise hat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem im Eisenbahnverkehr viel getan. Bei Kundeninformation, Barrierefreiheit und Hygiene wurden große Fortschritte gemacht.

Nicht nur bei den NE-Bahnen, sondern auch bei DB Regio, zumindest wenn der Aufgabenträger Standards vorgibt – vergleicht man die sauberen und reichlich mit Steckdosen ausgestatteten Regionalexpresse im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg mit vergleichbaren Langläufern im Südwesten Deutschlands, stellt man erhebliche Komfort- und Hygieneunterschiede fest (bei den S-Bahnen sieht es schon anders aus, aber das nur am Rande). Doch es gibt immer noch eine Korrelation zwischen Einkommen und Mobilitätsoptionen. Heute nennt man den Kundenkreis, der etwa aus finanziellen oder gesundheitlichen Gründen auf den ÖPNV angewiesen ist, „Captive Rider“.

Dank des demografische Wandels wird es mehr Rentner geben, die teilweise nicht mehr fahrtüchtig sind. Daneben wird es auch mehr Minderjährige in der Hauptstadt geben. Gleiches gilt für Touristen – jährlich werden neue Übernachtungsrekorde verzeichnet. Man kann nun den stetigen Kampf um Komfort und Sicherheit aufgeben und quasi die weiße Fahne hissen, denn U-Bahn fahren werden die „Captive Rider“ immer.

Es ist aber kurzsichtig, wenn die Politik den ÖPNV nur als Sparbüchse oder Akteur des zweiten Arbeitsmarkts ansieht, und nicht neue Fahrgäste auch zur Entlastung von Umwelt und Straßen erschlossen werden. Vermiedener Autoverkehr schont die Umwelt viel mehr als es der Verzicht auf Klimaanlagen in gesundheitsgefährdend heißen U-Bahnen. Als ich kürzlich nach einem Helsinki-Besuch abends nach Berlin zurückkehrte, nahm ich massive Kontraste wahr: Dort gibt es Automaten, die im Fernverkehr sogar auf Englisch bedruckte Fahrkarten ausgeben und fast jede Bankkarte nehmen.

Hier nur eine zersplitterte Vertriebslandschaft, an der mancher Automat keine Kreditkarten nimmt, keine Scheine, oder nur Münzen. Dort gepflegte Busse verschiedener, in einem Gemeinschaftstarif fahrender Betreiber und saubere Metrozüge ohne Schmierereien, hier ein Bus vom Flughafen Tegel zum Alex, der schummrig beleuchtet war wie eine Hafenkneipe, dessen Sitzbezüge schon bessere Tage gesehen haben und der heizte, statt an dem warmen Tag zu kühlen.

Natürlich waren die wenigen Klappfenster abgeschlossen. Und es gab obligatorische Schlangen am Einstieg, da man beim Busfahrer zwar bar zahlen kann, aber nicht mit Guthaben- oder gar mit kontaktloser Kreditkarte wie in London. Was sollen zum Beispiel ausländische Geschäftsreisende über Berlin und Deutschland denken, wenn sie trotz Kreditkarte oder Geldscheinen unfreiwillig schwarzfahren, weil der U-Bahnhofs- oder Tram-Automat ihre (seit Jahrzehnten im ÖV verbreitete) Zahlungsmethode nicht annimmt?

Siehe auch: BVG und VBB: Wachstum bei Captive Ridern

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