Die tickende Verrentungs-Zeitbombe
17.06.24 (Kommentar) Autor:Stefan Hennigfeld
Wenn das Durchschnittsalter des Fahrpersonals im deutschen ÖPNV und SPNV tatsächlich noch immer bei über fünfzig Jahren liegen sollte, wie der VDV das jetzt ermittelt hat, dann ist die tickende Zeitbombe noch heftiger als angenommen. Eigentlich könnte man ja davon ausgehen, dass die Verrentungswelle der geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge bereits soweit vorangeschritten ist, dass die ganz alten nicht mehr dabei sind und durch junge Leute ersetzt worden sind.
Wenn wir aber noch immer bei über fünfzig sind, dann kann man sich nicht ausdenken, wie dramatisch die Lage ist. Für Arbeitnehmer ab dem Jahrgang 1964 gilt das neue Renteneintrittsalter von 67 Jahren, aktuell verlassen uns die Jahrgänge 1958 und 1959. Wobei: Nicht wenige Mitarbeiter aus genau dieser Generation sind mit 14 aus der Schule in die Lehre gekommen und haben angefangen zu arbeiten und für die Rente zu kleben.
Die haben ihre 45 Jahre oft schon deutlich früher voll. Wer 1963 geboren wurde und 1979 mit 16 ins Berufsleben eingetreten ist, der hat seine 45 Jahre jetzt erreicht – ob der noch bis 2029 oder 2030 dabei bleibt, wenn er jetzt weitgehend abschlagsfrei Rente beantragen kann, muss man sehen. Zumal gerade der Fahrdienst ja auch anspruchsvoll ist und viele Mitarbeiter verlieren ihre Fahrtauglichkeit auch schon bevor sie 67 Jahre alt werden. Gleichzeitig ist bei jungen Leuten oder Quereinsteigern unklar, wie lange sie im Unternehmen bleiben.
Auch darüber spricht man ja durchaus offen, dass neben der Personalakquise auch der Erhalt der Stammbelegschaft ein wichtiges Thema ist. Schon lange ist niemand mehr um jeden Preis auf diesen einen Job als Lokomotivführer, Busfahrer oder Fahrdienstleiter angewiesen, sondern es sind gefragte Leute, die in allen möglichen Bereichen unterkommen können. Gerade die Quereinsteiger, die aus dem Handwerk oder aus der Industrie kommen haben genug Möglichkeiten, die Branche auch wieder zu verlassen.
Diese ganze Situation steht dann unter der Prämisse, dass man ja nicht nur trotz laufender Verrentungswelle und sinkender Schülerzahlen den Bestand erhalten muss, sondern es muss massiv aufgebaut werden, weil sie noch immer davon sprechen, dass sie die Fahrgastzahlen bis zum Jahr 2030 im Vergleich zum Jahr 2020 verdoppeln wollen – auch wenn das natürlich nicht mehr nur unrealistisch, sondern völlig absurd ist.
Jetzt verlange ich ja gar nicht vom VDV oder anderen Branchenvertretern, dass man öffentlich abschwört oder widerruft, aber es wäre schon einiges gewonnen, wenn man dieses Narrativ einfach nicht mehr bespielen würde. Wenn irgendwelche Verkehrspolitik aus dem Bundestag oder den Landtagen sowas erzählen, dann sollen sie, aber als Branche wäre man klug beraten, das still und leise in der Mottenkiste verschwinden zu lassen. Realistischerweise können wir froh sein, wenn wir im Jahr 2030 das Fahrgastaufkommen und das Fahrplanangebot des Jahres 2019 wieder erreichen. Alles andere ist unrealistisch und wer ernst genommen werden will, der täte gut daran, solche Erzählungen sein zu lassen.
Siehe auch: VDV: Einstellungsoffensive läuft
Foto: Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e.V.