Respekt vor der Realität
18.04.24 (Kommentar) Autor:Stefan Hennigfeld
Es sind wahre Worte, was die Branchenverbände da sagen: Wir haben ein echtes Problem und bevor wir hier nicht ernsthafte Lösungen erarbeitet und umgesetzt haben, kann man Hirngespinste wie eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen zwischen 2020 und 2030 einfach nur vergessen. Die Politik hat sich erst das Neun-Euro-Ticket und dann das Deutschland-Ticket ausgedacht, lässt die Verantwortlichen in der Branche jedoch weitgehend mit den Problemen alleine.
Dabei haben die Unternehmen, Verbünde und Aufgabenträger bereits im vorvergangenen Jahr gezeigt, dass sie die Pläne umsetzen können: Die Branche wäre bereits nach dem Ende des Neun-Euro-Tickets in der Lage gewesen, die Nachfolgeregelung ab dem 1. September 2022 einzuführen, man hätte es dann am 1. Januar 2023 gekonnt und es ist einzig und allein die Verantwortung der Politik, dass es dann bis zum 1. Mai gedauert hat. Auch hier sprechen die Branchenakteure endlich ein wichtiges Thema an, nämlich die ständige Verhandlungsmasse zwischen Bund und Ländern.
Wenn sich doch alle einig sind, dass wir einen deutlich besseren ÖPNV brauchen, um bundesweit dafür zu sorgen, dass Bürger vom Auto auf die Schiene wechseln, dann muss das auch bezahlt werden. Ein „Wenn der Bund das möchte, dann muss der Bund das bezahlen, da haben wir Länder nichts mit zu tun“ wird dann nicht funktionieren. Genau so hat sich der bayrische Landesverkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) aber im Jahr 2022 durch den Bayrischen Rundfunk in Bezug auf das Deutschland-Ticket zitieren lassen.
Wahrscheinlich wird das Deutschland-Ticket im kommenden Jahr teurer, womöglich dann auch in Zukunft jedes Jahr. Dann hätten wir aber wieder das, was man eigentlich vermeiden wollte, nämlich jährlich steigende Fahrpreise, womöglich auch wieder über der Inflationsrate. Denn auch das muss klar sein: Wenn die Eisenbahn auch bundesweit im Durchschnitt eine deutlich größere Rolle spielen soll als bislang, dann ist ein Kostendeckungsgrand von neunzig Prozent nicht mehr möglich – hier wird es dauerhaft zusätzlicher finanzieller Zuwendungen auf gesamtstaatlicher Basis geben müssen oder man kann die Ziele einer Verkehrsverlagerung nicht erreichen.
Und dann ist da ja noch der große Komplex, den die Verbände nicht angesprochen haben: Dass man in einer Zeit, in der es an Arbeitskräften, aber auch Baustoffen und Zuliefermaterialien fehlt, nicht alles mit Geld kaufen kann. Wenn man Wartungsrückstände in den Werkstätten hat, weil es nicht genügend Mechatroniker gibt und deshalb die Fahrpläne reduziert werden müssen, dann nutzt ein plumpes „mehr Geld für die Schiene“ nicht, sondern dann muss man auf die Ressourcen und Kapazitäten achten.
Können wir überhaupt zusätzliche Gelder sinnvoll ausgeben? Haben wir bei höheren Regionalisierungsgeldern ausreichend Lokomotivführer? Kann man eine verlängerte Betriebszeit des Nahverkehrs durchsetzen oder macht um 22 Uhr das Stellwerk zu, weil kein Fahrdienstleiter da ist? Auch hierüber muss man sich ehrlich machen und das fehlt momentan noch.
Siehe auch: Branchenverbände mit Appell an die Politik
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