Vernünftige Nachfolgeregelung statt Aktionismus
08.08.22 (Kommentar) Autor:Stefan Hennigfeld
Eigentlich hat es jeder gewusst: Der öffentliche Verkehr ist so konzipiert, dass man mit den Captive-Ridern gut ausgelastet ist: Also die, die auf Bus und Bahn angewiesen sind, weil ihnen aus was auch immer für Gründen kein Auto zur Verfügung steht. Das sind dann auch die Nutzergruppen (die Kunden sind die Aufgabenträger), die bei einer Angebotsverschlechterung im Rahmen der allgemeinen „Fahrgastverdichtung“ in immer volleren Zügen fahren würden, weil deren einzige Alternative der vollständige Verzicht auf die Fahrt wäre.
Natürlich würde nie ein Branchenakteur genau das öffentlich so ausdrücken, aber hinter vorgehaltener Hand wissen wir alle, dass es so ist. Auch die Ankündigung, man würde bis zum Jahr 2030 die Fahrgastzahlen verdoppeln mag ja sachunkundige Politiker beeindrucken, aber in der Realität ist das nicht umsetzbar. Wir befinden uns mitten im ausgerufenen „Jahrzehnt der Baustellen“ mit lauter Busersatzverkehren und Streckensperrungen, aber wenn das um ist, dann haben wir doppelt soviele Fahrgäste.
Das dürfte schon an der Personalverfügbarkeit scheitern und auch das Thema hatten wir ja schon mehrfach: Bis zum Jahr 2030 steht uns eine gigantische Verrentungswelle bevor, sodass die Eisenbahn Probleme haben dürfte, den Status Quo aufrecht zu erhalten. Und dennoch war das Neun-Euro-Ticket ein Erfolg. Denn man hat es geschafft, mit der Eisenbahn in die Schlagzeilen zu kommen. Die mediale Aufmerksamkeit, die es sonst nur bei GDL-Streiks gibt, die ist jetzt auch da und alle sprechen über die Zustände auf der Schiene.
Wenn wir jetzt im nächsten Monat so tun als wäre nie was gewesen und ein ganz normaler Hamburger Berufspendler zahlt wieder einen dreistelligen Betrag im Monat, dann ist mit Ausnahme einer großen Sommerparty tatsächlich nichts gewesen. Umgekehrt muss man sich fragen, ob es wirklich einer bundesweiten Nutzbarkeit bedarf, wenn man Berufspendler finanziell wirklich entlasten möchte. Da wäre es doch naheliegender, in den Verkehrsverbünden oder auch innerhalb der Bundesländer Regelungen zu schaffen.
Für Spaßfahrten von Flensburg nach Füssen ist jedenfalls der Regionalverkehr nicht gemacht. Hier gibt es ja mit dem Quer-durchs-Land-Ticket bereits ein Angebot. Das ist ebenfalls stark ermäßigt, aber nicht so billig, dass es nur aus Jux und Dollerei gekauft wird. Vor allen Dingen aber gilt dieses Ticket grundsätzlich erst morgens ab neun Uhr, also wenn die harte Spitze des Berufsverkehr vorbei ist. Denn für viele langjährige Stammkunden ist der klassische SPNV unbenutzbar geworden.
Das lag auch daran, dass das Neun-Euro-Ticket in einer Hauruck-Aktion im Koalitionsausschuss beschlossen worden ist. Man hat eben nicht im Vorfeld mit Leuten gesprochen, die sich auskennen und die die Nachteile hätten absehen können. Man hat nicht abgewogen und Argumente ausgetauscht, sondern es wurde im Koalitionsausschuss beschlossen und dann durch das Gesetzgebungsverfahren gejagt. Wir brauchen eine Nachfolgeregelung, damit es nicht einfach so wie vorher wird. Aber die soll wohlüberlegt sein.
Siehe auch: Neun-Euro-Ticket: Evaluation und Nachfolgeregelungen
Foto: Deutsche Bahn AG / Max Lautenschläger