Eisenbahnjournal Zughalt.de

Nachrichten über Eisenbahn und öffentlichen Verkehr

Mehr Realität, weniger Elektro-Utopia

18.08.22 (Kommentar) Autor:Stefan Hennigfeld

Uns droht in der Bundesrepublik in diesem Winter eine Energiekrise von bislang unbekanntem Ausmaß. Nicht nur, dass Brennstoffe unbezahlbar werden, wir wissen nicht einmal, ob wir in Deutschland ausreichend davon haben werden. Brauchen wir, wenn das Erdgas knapp wird, vielleicht besonders viel elektrische Energie, um unsere Wohnungen zu heizen? Passen Elektrobusse da überhaupt noch in die Zeit? Wäre nicht gerade hier ein verlässlicher moderner Dieselbus genau das, was uns Sicherheit für den Winter verspricht?

Was machen wir denn, wenn es tatsächlich auch zu einem Mangel an Elektrizität kommt mit elektrischen Straßenfahrzeugen, ganz gleich ob Autos oder öffentliche Verkehrsmittel? Jede Nacht sollen die Busse über Ladehauben in den Depots aufgeladen werden, dazu kommen Zwischenladungen über den Tag verteilt, aber was ist wenn wir vielleicht ganze Stadtteile stunden- oder tageweise abschalten müssen, weil nicht genügend elektrische Energie vorhanden ist?

Noch immer haben wir in Deutschland drei Kernkraftwerke, die zum 1. Januar mehr oder weniger ersatzlos runtergefahren werden und die dann fehlen, wenn es in den ersten Monaten des Jahres kalt ist. Dabei sprechen wir noch nicht über die Funktionstüchtigkeit der Batterien nach einigen Jahren im Linieneinsatz. Wer kann jetzt schon absehen, ob ein vier oder fünf Jahre alter Bus im Winter 2026/27 regelmäßig liegenbleibt, weil das mit dem Nachladen an irgendwelchen Schnellstationen an den Endhaltestellen nicht mehr so gut klappt wie unmittelbar nach der Auslieferung?

Sollen wir wirklich, nur weil es gerade en vogue ist nach Dekarbonisierung zu rufen, uns mit nahezu dem gesamten öffentlichen Verkehr von einer Technologie abhängig machen, die im langfristigen Alltag komplett unerprobt ist? Zumal wir ja eins nicht vergessen dürfen: Jeder Elektrobus, der irgendwo in Deutschland im Linieneinsatz fährt, wurde aus irgendeinem Sonderetat der Länder oder des Bundes kofinanziert, denn bei der reinen Betrachtung von Marktpreisen ist der konventionelle Dieselbus nach wie vor unschlagbar.

Würde das Geld, das man für im Vergleich zum Dieselbus nicht marktfähigen Technologien in den Sand setzt, für Leistungsausweitungen, Angebotsverbesserungen oder auch zur Ausbildung und Akquise dringend benötigter Mitarbeiter eingesetzt, würden manche Probleme heute vielleicht weit weniger eskalieren. Denn im nächsten Schritt droht ja auch die Inbetriebnahme von zur Reserve vorgehaltenen Kohlekraftwerken daran zu scheitern, dass die Eisenbahn mangels Personal nicht mehr in der Lage ist, diese Anlagen mit Festbrennstoffen zu versorgen.

Wenn dann gleichzeitig noch im großen Stil öffentliche Verkehrsmittel auf elektrische Traktion umgestellt werden, dann droht hier eine sich verstärkende chaotische Situation. Und wie real dieses Szenario ist sieht man dieser Tage überall in der Republik, wenn Stellwerke wegen Personalmangel nicht besetzt sind und Strecken abends geschlossen werden. Deshalb brauchen wir jetzt mehr Realität und weniger elektromobiles Utopia.

Siehe auch: DVB elektrifiziert Buslinie 68
Foto: Dresdner Verkehrsbetriebe AG

Kommentare sind geschlossen.