Auf Sicht fahren
14.07.22 (Kommentar) Autor:Stefan Hennigfeld
Noch bis 2019, also bis die Coronapandemie unser Leben grundlegend verändert hat, hatte man bei öffentlichen Verkehrsmitteln einen auf die neunzig Prozent zugehenden Kostendeckungsgrad und es sollte auch immer noch mehr werden. Vermutlich als ideologisches Überbleibsel aus den 1990er und 2000er Jahren dachte man, dass sich Busse und Bahnen ja irgendwie doch zumindest zu großen Teilen selbst finanzieren können.
Tatsächlich war es nicht so, weil man immer bestimmte staatliche Zuschüsse als Markteinnahmen berechnet hat, doch sei es drum: Man ging davon aus, dass der Fahrpreis nicht nur eine symbolische Schutzgebühr ist, sondern eine wichtige Rolle spielt bei der Innenfinanzierung öffentlicher Verkehrsmittel. Jetzt sehen wir in einer sich verändernden Arbeitswelt in einer politischen Debatte um billige Fahrscheine, dass es in die andere Richtung geht und den Verkehrsunternehmen auch jenseits von Lockdown-Maßnahmen die Einnahmen fehlen.
Das ist auch verständlich, denn jemand, der für seinen Beruf nicht mehr täglich ins Büro fährt, sondern vielleicht nur noch an zwei oder drei Tagen im Monat, der braucht die Flatrate für öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr. Die Verbünde haben ja auch flächendeckend bereits reagiert und neuartige Angebote für eine Arbeitswelt gemacht, in der sich deutlich mehr als noch 2019 gedacht in den eigenen vier Wänden abspielt.
Aber weil diese Angebote entsprechend billiger sind, müssen sie finanziert werden. Das Neun-Euro-Ticket ist eine revolutionäre Idee, aber das Geld muss durch die öffentliche Hand kompensiert werden. Die Politik möchte in Zeiten horrender Spritpreise und politischer Unsicherheit wegen eines furchtbaren und sinnlosen Krieges in der Ukraine mit guten öffentlichen Verkehrsmitteln antworten. Hierfür braucht man bei den Stuttgarter Straßenbahnen aber auch überall in der Republik eine entsprechende Vorbereitung.
Wenn jemand für drei Monate statt hundert Euro nur neun Euro bezahlt, dafür aber bundesweit unterwegs ist, dann fehlen erhebliche Umsätze im System Schiene. Derzeit kann die Branche nur auf Sicht fahren, denn wir wissen weder, wie sich die Kosten für Treib- und Brennstoffe entwickeln, noch ob und wenn ja welche organische Fortsetzung es für das Neun-Euro-Ticket gibt.
Man kann wohl sicher sagen, dass eine Verlängerung bis an das Jahresende vermutlich in der Ampelkoalition nicht mehrheitsfähig ist. Aber die Debatte um ein 365-Euro-Ticket, das dann vielleicht nicht bundesweit, aber im jeweiligen Bundesland oder auch in einem gewissen Umkreis gilt, die wird mit großer Ernsthaftigkeit geführt.
Das Neun-Euro-Ticket und der Tankrabatt laufen beide Anfang September aus. Wie es in sechs bis sieben Wochen in der Ukraine aussieht, wissen wir nicht. Wir wissen ja derzeit nicht einmal, ob und welche Mengen Erdgas aus Russland für den Winter kommen. Möglicherweise spielt die Eisenbahn- und ÖPNV-Branche auch eine ganz andere Rolle in einer sich abzeichnenden Energiekrise. Das muss man jetzt alles unaufgeregt auf sich zukommen lassen.
Siehe auch: SSB AG legt Bilanz für 2021 vor
Foto: eagle77