Es wird ernst
23.05.22 (Kommentar) Autor:Stefan Hennigfeld
Ob jetzt wirklich wahre Horden an Regionalverkehrsnutzern auf die Nordseeinsel Sylt reisen, wie das hin und wieder kolportiert wurde, sei mal dahingestellt. Tatsache ist aber, dass wir jetzt sehen werden, welche Effekte das vor einigen Wochen für die gesamte Eisenbahnbranche überraschend angekündigte #9für90-Ticket haben wird. Erste Stimmen von Berufspendlern, die erwägen, für zumindest drei Monate auf den SPFV auszuweichen, weil der Regionalexpress im Berufsverkehr unbenutzbar zu werden droht, waren bereits vernehmbar.
Doch seien wir ehrlich: Wir sprechen seit Jahren darüber, dass der schlechte Modal Split auch mit subjektiven Zugangsbarrieren zu tun hat, die man jetzt abbauen kann: Einmal für neun Euro eine Monatskarte gekauft und dann gucken wir mal, wie es denn funktioniert mit der modernen Eisenbahn. Fast dreißig Jahre nach der großen Eisenbahnreform 1994 und dem Start der Regionalisierung 1996 ist klar, dass der anrüchige Charme der alten Behördenbahn längst verflogen ist.
Die Zeiten, dass der Hauptbahnhof ein großer Rauschgiftumschlagplatz ist und dass es in den Zügen wahlweise eiskalt oder überhitzt ist, dass Kaugummis an den Sitzen kleben und diverse Körperausscheidungen bestimmter Fahrgastgruppen das Erscheinungsbild bestimmen, sind vorbei. So manch einer, der seit seiner Jugend keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr von innen gesehen hat, wird sich wundern, was sich alles zum guten gewandelt hat.
Die Eisenbahn ist, und das war seit den 1990er Jahren das Ziel, von einem Schattenhaushalt und einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu einem ernsthaften Verkehrsträger geworden. Wobei wir zwischenzeitlich auch mal eine Phase hatten, als man Busse und Bahnen mit der Räsenmähermethode die Finanzierung zusammengetrichen hat. Taktlücken, früherer Betriebsschluss und viele weitere Unannehmlichkeiten waren die direkte Folge des Koch-Steinbrück-Papiers in den späten Nullerjahren.
Dass die Länder nicht zweckgebundene Ausgleichszahlungen vom Bund bekamen, die auch heute noch weiter fließen, darüber redet man ebenso ungern wie über die hohen Summen nicht verausgabter Regionalisierungsgelder. Das Narrativ der untersubventionierten Eisenbahn gehört halt irgendwo doch auch zur Folklore dazu wie die Sentimental Journey oder der Chattanooga Choo Choo.
Tatsächlich wird man aber jetzt sehen, ob die Eisenbahnbranche überhaupt in der Lage ist, eine ernsthafte Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene zu bewältigen. Wie sieht es denn aus, wenn auch im September, Oktober und November auf einmal zwanzig, dreißig oder vierzig Prozent mehr Pendler in den Zügen sind, das womöglich sogar zur Hauptverkehrszeit?
Ist man in der Lage, zusätzliche Zugleistungen zu bestellen und zu bezahlen? Sind die Verkehrsunternehmen so aufgestellt, dass man die zusätzlichen Züge auch wirklich auf der Schiene sieht oder könnte man sie bestenfalls in den Fahrplan schreiben? Jetzt gilt es, die Verkehrswende, die starke Schiene in die Realität umzusetzen. Auf gehts!
Siehe auch: #9für90 startet am 1. Juni
Foto: LoboStudioHamburg