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Utopie und Realität

30.09.19 (Kommentar, VRR) Autor:Stefan Hennigfeld

So ein 365-Euro klingt gut und in Wien hat man damit ja auch beachtliche Erfolge erzielt. Aber die monozentrische Stadt Wien hat auch nur einen Bruchteil der Größe, die das polyzentrische Ruhrgebiet hat. Natürlich klingt das toll, wenn einer mit seinem 365-Euro-Ticket jeden Tag von Dortmund nach Mönchengladbach oder von Haltern am See nach Remscheid zur Arbeit fahren kann.

Die Entbehrungen und Finanzeinbußen, die damit einhergehen, sind jedoch erheblich. Es bräuchte gigantische Ausgleichszahlungen aus den öffentlichen Kassen. Und dann sagt José Luis Castrillo vom VRR ja auch zurecht, dass das System kollabieren würde, weil einfach zu viele Menschen dann fahren würden. In einer perfekten Welt kann man gar nicht genug Umsteiger vom Auto auf Busse und Bahnen haben.

Die Realität ist leider nicht ganz so schön wie die Utopie. Denn zusätzlich zu den Einnahmeausfällen müssten auch zahlreiche Leistungsausweitungen finanziert werden, die nötig würden, um dem dann gestiegenen Andrang Herr zu werden. Das ist aber gar nicht machbar. Zum einen, weil die Infrastruktur das nicht hergibt und auf Jahrzehnte nicht hergeben wird, zum anderen weil die Unternehmen ja bereits jetzt über weite Strecken erhebliche Probleme haben, die Leute zu finden, die die Züge dann am Ende auch fahren.

Wenn es im VRR oder auch NRW-weit von jetzt auf gleich zehn Prozent mehr Zugleistungen gäbe, dann hieße das im konkreten Fall nur, dass mehr Züge im Fahrplan stünden. Ob die dann auch wirklich fahren würden, steht auf einem ganz anderen Blatt Papier. Und darüber müssen wir zuerst sprechen: Der aktuelle Fall zwischen dem VRR und der Eurobahn mag ja unterschiedlich bewertet werden und ich möchte hier auch gar keine Rechtsauffassung für richtig oder falsch erklären.

In jedem Fall aber zeigt es, dass es nicht so einfach möglich ist, nach Belieben Leistungen auszuweiten, weil die Mitarbeiter fehlen. Möglicherweise kann man in den nächsten Jahren auf den jetzt zu erwartenden konjunkturellen Abschwung „hoffen“, aber wenn bei Goodyear in Fulda oder bei Daimler-Benz in Baden-Württemberg Stellen gestrichen werden (was noch längst nicht mit betriebsbedingten Entlassungen einhergeht), dann kann man damit eben noch lange nicht die freien Eisenbahnerjobs an Rhein und Ruhr besetzen.

Und wir haben ja gesehen, dass auch mehrere tausend Opelaner aus Bochum nicht die Lösung aller Probleme waren. Ja, es haben Menschen aus der Autobranche eine neue berufliche Perspektive bei der Eisenbahn gefunden und das ist auch für alle Beteiligten schön zu sehen. Aber der Personalmangel ist stärker als je zuvor.

Auch Narrative, dass die marktwirtschaftlichen Strukturen im Wettbewerb zu irrationalem Personalabbau zwängen, greifen zu kurz. Es gibt schlicht keine arbeitslosen Lokomotivführer. Hier anzusetzen ist etwas, das man machen muss deutlich bevor man über Leistungsausweitungen oder utopische 365-Euro-Tickets spricht. Denn die beste Idee muss immer auch in der praktischen Realität bestehen können. So desillusioniert das klingen mag.

Siehe auch: VRR beschließt Preisanpassung 2020

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