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Qualität statt Moralpredigten

16.10.14 (Europa, Kommentar) Autor:Max Yang

Es ist ein nur allzu bekanntes Argumentationsmuster: ob Online-Shopping oder Autofahren, gerne werden bestimmte (sehr menschliche) Verhaltensweisen in der öffentlichen Diskussion pauschal als ungehörig oder unmoralisch deklariert. Somit geht man einer ernsthaften Diskussion über die tatsächlichen Auswirkungen oder auch die Ursachen dieser Entwicklung aus dem Weg. Was nun den öffentlichen Nahverkehr angeht: Wenn der Vorstandsvorsitzende der Essener Verkehrs-AG in einer Pressemitteilung erklärt, dass Streiks im kommunalen ÖPNV „zu Lasten all derer [gehen], die auf den Nahverkehr angewiesen sind: die Pendler, die Rentner und die Schulkinder“, hat er das Problem schon benannt.

Viele Verkehrsunternehmen verstehen sich nämlich nicht als Dienstleister, sondern vielmehr als öffentliche Versorgungsanstalt für diejenigen, die mangels Alternativen auf den Dienst angewiesen sind. Fehlender Marktdruck mag ein Problem sein, aber den Marktdruck gibt es auch in London nicht, wo angesichts der historischen Stadtgrundrisse Staus im Straßenverkehr Alltag sind und bleiben werden. Pendler nach Zentral-London nutzen seit Jahrzehnten zu weit mehr als 70% öffentliche Verkehrsmittel. Jedoch ist zumindest politischer Druck vorhanden. Die Tagespresse berichtet über Kapazitäts- und Qualitätsprobleme, Pünktlichkeits- und Zuverlässigkeitsstatistiken werden in Eisenbahn- und Stadtbahn-Stationen ausgehängt, und auch in der Lokalpolitik ist der ÖV kein Randthema und wird tatsächlich als Wirtschaftsfaktor statt nur als öffentliches Beschäftigungsprogramm angesehen.

Dennoch ist TfL immer wieder innovativ und richtet z.B. Abholstationen für Online-Bestellungen („Amazon Lockers“) an Stationen ein, denn man ist ein Dienstleister, der den Bürgern das Leben einfach machen soll. Welch ein wohltuender Kontrast zu den Negativbeispielen hierzulande, von denen eines die Berliner Verkehrsbetriebe AöR (BVG) sind. Diese verzichten nach eigenen Angaben aus Kosten- und Umweltgründen bewusst auf eine Klimatisierung der neu zu beschaffenden U-Bahn-Triebzüge, obwohl die baulichen Bedingungen in Berlin sowie das Lichtraumprofil großzügiger sind als in London und eine Klimatisierung technisch viel anspruchsloser wäre. Auch die von der BVG nun zu beschaffenden Züge werden jahrzehntelang im Einsatz bleiben und sind dabei schon vom ersten Tag an veraltet.

Es bleibt die Frage, ob es wirklich ökologischer ist, wenn sich potentielle ÖPNV-Kunden aufgrund des geringen Komforts der Verkehrsmittel doch zum PKW hin orientieren. Mag das Autofahren noch so verpönt sein, es wird immer Menschen geben, die sich im Sommer nicht eine knappe Stunde in überhitzte U-Bahn-Züge quetschen wollen, wenn sie oft schneller und deutlich komfortabler im Individualverkehr vorankommen. Gerade angesichts des Bevölkerungswachstums in Großstädten ist es auch keine Lösung, den Individualverkehr künstlich zu beschränken oder in quasireligiöser Weise Selbstkasteiung zu predigen. Vielmehr muss der ÖPNV auch qualitativ eine ernsthafte Alternative sein. Ein Minimum an Komfort zu erwarten ist gerade nicht unmoralisch.

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