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Wissenschaftler werfen Richtlinienverstöße im Stuttgart 21-Stresstest vor

18.11.11 (Stuttgart) Autor:Niklas Luerßen

Eine Gruppe von Wissenschaftlern, Verkehrsplanern und Ingenieuren, die sich im Internet unter den Namen „WikiReal“ zusammengeschlossen haben, wirft der Bahn in einer heutigen Pressekonferenz unter Teilnahme von Dr. Christoph Engelhardt, Prof. Dr.-Ing. Wilfried Koch und Dipl.-Phys. Roland Morlock eine Manipulation der Stresstestsimulation vor und fordert eine neue kritische Prüfung und Bewertung unter Leitung neutraler unabhängiger Fachleute. Die Bahn bestreitet die Vorwürfe und hatte sich gestern vorbehalten, rechtliche Schritte einzuleiten, „wenn diese sich offiziell zu ihren Behauptungen bekennen“.

Die Kritiker verglichen dabei ihre Erkenntnisse aus der Auswertung des Audits mit der „nur für den Dienstgebrauch“ geltenden aktuellen Bahnrichtlinie (Ril) 405. Ihrer Meinung nach müsste die Schlussbewertung „wirtschaftlich optimal“ eigentlich mindestens „risikobehaftet“, wenn nicht gar „mangelhaft“ lauten, denn die Einordnung eines der Merkmale „noch akzeptabel“ bedeutet, dass sich Verspätungen, die sich im betrachteten Bereich aufbauen, auch wieder vollständig abgebaut werden müssten. Damit dürfte dieser Bahnhof gemäß den Vereinbarungen eigentlich gar nicht gebaut werden.

Im Audit wurden Verspätungen intransparent gekappt. Konkret wurden Verkehrsspitzen zur Abbildungen von Störungen und Stresssituationen um die kritischen Werte gekappt, die verbleibenden im Vergleich dazu relativ harmlosen Verspätungen liegen in der Nähe der Pufferzeiten. Dies wurde von der Bahn verschwiegen und sogar auf Nachfrage verschwiegen. Auch wurde die sogenannte Lastkurve unrealistisch modelliert, so fehlen vor und nach der Spitzenstunde 24 Züge. Auch der Belegungsgrad müsse berücksichtigt werden. Beim Stuttgart 21-Bahnhof läge er bei knapp 90% und sei damit „katastrophal“. Unter einem Belegungsgrad versteht man die Zeitspanne innerhalb eines definierten Zeitabschnitts in einem Bahnhof, in der alle Gleise nicht für weitere Züge nutzbar seien. Dazu zählt für ein Gleis betrachtet der Vorgang von der Schaltung einer Fahrstraße in dieses Gleis (damit ist dieser Block für andere Züge nicht mehr nutzbar), der Einfahrt des Zuges, die Standzeit, die Abfahrt des Zuges bis hin zur Auflösung der Fahrstraße und Nutzbarkeit des Blocks für andere Züge.

Damit sei die Sensitivität und der finale Simulationslauf ohne Aussagekraft. Sowohl wissenschaftlich als auch gemäß der Bahn-Ril 405 seien diese nicht haltbar, da nur Stichproben anstatt eine durchgehende 100-Tage-Simulation durchgeführt wurden. Faktisch wurden nur bis zu drei Tage simuliert und vereinzelte realistische Werte berücksichtigt. Die Ril fordert eine Vollsimulation, aber die Sensitivitäten des Audits kratzen lediglich an der Wirklichkeit. Für einen Nachweis müssten alle Parameter realistisch festgelegt werden.

Allgemein stellen sie anhand des Audits folgende entsprechenden Ril-Verstöße fest:

  • Verspätungsaufbau zu niedrig, Verspätungsabbau zu hoch
  • Stresstestdokumentation nicht nachvollziehbar und unvollständig
  • weitere wichtige Kenngrößen außer die des Belegungsgrades fehlen
  • Prozess wurde nach ungültiger Prozessbeschreibung durchgeführt
  • Nach der Aufgabe des Stesstests hätten Störfälle ausreichend simuliert werden müssen
  • und ganz wichtig: Nach der Ril ist eine Simulation nur im Vergleich mit Varianten – also in diesem Fall dem aktuellen Kopfbahnhof – aussagefähig und zulässig, was hier nicht passiert sei!

Weitere Fehler bzw. Tricks seien auch die Annahme zweier RegionalExpress-Züge anstatt eines ICE, denn nur mit diesen könnte man eine Doppelbelegung auf einem Bahnsteig erreichen, da ein ICE zu lang wäre. Auch der S-Bahn-Linientausch schade der S-Bahn, da z.B. bei der Errichtung des S-Bahn-Netzes auf die Hauptverkehrsströme geachtet wurde (z.B. viel Werksverkehr zwischen Böblingen und Bad Cannstatt), was in diesem Modell gekappt würde. Dieser Linientausch zwischen S1-S3 und S4-S6 südlich Schwabstraße wurde allerdings mittlerweile im VRS-Regionalparlament abgelehnt, allerdings wurde dies noch im Stresstest angenommen, und der Auditor sieht die S-Bahn bereits dort in einem „kritischen Zustand“ – faktisch sei dies bereits ein Ausschlusskriterium.

Als Fazit kommt man zum Schluss, dass statt der testierten 49 Züge pro Stunde lediglich zwischen 32 und 35 Züge in der Spitzenstunde zu bewältigen seien, was sich auch mit den Zuständen anderer Bahnhöfe in Europa mit ähnlicher Anordnung hinsichtlich der Gleisanzahl und Zulaufstrecken decke. Die Gruppe betont allerdings ausdrücklich, dass sie lediglich davon ausgehen, dass durch diese Regelverstöße und Nichteinhaltung der Ril 405 die Reduzierung der obigen Punkte dazu beitrage, dass man bei 32-35 Zügen pro Stunde landen würde, sie behaupten im Vergleich zum Kopfbahnhof nicht explizit, dass S 21 nur 32 und der Kopfbahnhof 37 oder mehr Züge pro Stunde schaffen würde! Zusätzlich führen die Fehlerabschätzungen wie die Plausibilitätsbetrachtungen auf eine Leistungsfähigkeit, die unterhalb des Kopfbahnhofs liegt, de facto also ein tatsächlicher Rückbau der Bahninfrastruktur bei einem Abbau der Betriebsqualität darstellen würde. Das Audit weist damit zahlreiche Mängel auf, wie inkonsequente Bewertungen, abgeschwächte Formulierungen für gravierende Mängel und Übersehen von Parametern und Sachverhalte, die der Auditor allerdings davor selbst formuliert hatte!

Die Wissenschaftler werfen der Bahn außerdem vor, „freihändig und verfälschend“ diese Qualitätsstufe durch „Zusammenstückeln“ der Passagen der Richtlinie erreicht zu haben. Damit werde der Eindruck erweckt, das Ziel der „wirtschaftlich optimalen Leistungsqualität“ erlaube einen Verspätungszuwachs. Allerdings läge ein Verspätungszuwachs von bereits einer Minute „an der Grenze zum mangelhaften Bereich“, was man in der Bahncollage allerdings vergeblich suche. Außerdem handele es sich um eine sogenannte „Schönwetter-Simulation“, da in dieser 95% Pünktlichkeit im Fernverkehr (bei einer Verspätungstoleranz von 10 Minuten) angenommen wurde, tatsächlich weist der aktuelle DB-Geschäftsbericht lediglich eine Pünktlichkeitsquote von 85% aus.

Die Gruppe weist nochmals ausdrücklich darauf hin, dass die „gute Betriebsqualität“ nach der damals gültigen Richtlinie die Grundlage für das VGH-Urteil von 2006 und außerdem auch die Grundlage der Planfeststellung gewesen ist.

Stellungnahme der Bahn

Die Bahn wies diese Vorwürfe bereits gestern zurück. Sie behielt sich vor, rechtlich dagegen vorzugehen, falls „diese sich offiziell zu ihren Behauptungen bekennen“. Die anerkannten Standards des Eisenbahnbetriebs seien eingehalten und auch von der SMA bestätigt worden. Der Manipulationsvorwurf sei „ungeheuerlich“: „Eine Weisung, ein bestimmtes Ergebnis erzielen zu müssen, hat es nicht gegeben“. Deshalb sei auch eine Wiederholung des Stresstests nicht nötig. Der SMA-Chef Werner Stohler möchte sich dazu erstmal nicht äußern, ohne Originaldokumente vorliegen zu haben und schon gar nicht vor der Volksabstimmung.

Hinsichtlich dem Vorwurf der „Zusammenstückelung“ der Passagen kommentiert die Bahn wie folgt: „Der wirtschaftlich optimale Leistungsbereich umfasst (an seiner Grenze zur mangelhaften Betriebsqualität) auch den Bereich der risikobehafteten Betriebsqualität. Im Durchschnitt würden 33 Sekunden Verspätung über alle Strecken des Bahnknotens hinweg abgebaut. […] Die Feststellung von SMA, dass eine wirtschaftlich optimale Betriebsqualität vorliegt, ist voll umfänglich zutreffend.“ Sogar eine Tendenz zur Bestnote gemäß der Ril, „Premiumqualität“, ergebe sich.

Auch die Behauptung des Belegungsgrades von 90% weist die Bahn zurück. So bestätige die SMA einen stabilen Betrieb und geringe Verspätungszuwachse im Zu- und Ablauf und dass kaum Züge auf Ein- und Ausfahrt warten müssten.

Bezüglich der Verspätungsraten im Fernverkehr verweist die Bahn auf „automatisch ermittelte Betriebsführungsdaten“ der Betriebszentrale Karlsruhe, die „die Realitätsnähe der DB-Annahmen zum Verspätungsniveau bestätigen“. Zur Vergleichspflicht gemäß der Ril, dass Simulationen nur im Vergleich mit Varianten zulässig seien, sei dies nicht Aufgabe aus der Schlichtung gewesen, eine „Untersuchung der überlasteten bestehenden Infrastruktur“ vorzunehmen. Projektsprecher Wolfgang Dietrich: „Auch wenn es unverbesserliche Kritiker nicht glauben wollen, die neue Infrastruktur baut Verspätungen spürbar ab.“

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