Stuttgart 21: Vom Kostenlimit und der Wendlinger Kurve
22.09.11 (Stuttgart) Autor:Niklas Luerßen
Im Koalitionsvertrag hatten Grüne und SPD die Forderung zur Kostenrechnung wie folgt vereinbart: „Nach Abschluss des Stresstests und der Bewertung der Ergebnisse wird eine aktualisierte Kostenrechnung von der Deutschen Bahn AG eingeholt und von der Landesregierung geprüft“. Am Freitag tagt der Lenkungskreis, dort soll die Bahn nun die geforderten Belege beibringen. Der Bahn-Aufsichtsrat erklärte unterdessen als Reaktion auf den Bericht von Dienstag von „Report Mainz“ über das Wissen der Bahn vor Vertragsabschluss über höhere Projektkosten und der darauffolgenden Strafanzeige der „Juristen zu Stuttgart 21“ lapidar, er unterstütze „den Vorstand bei der Umsetzung des Projektes vollumfänglich“. Inzwischen gibt es auch Streit über die Wendlinger Kurve, ob die bisher geplante höhengleiche eingleisige Sparvariante oder die sogenannte höhenfreie Große Wendlinger Kurve umgesetzt werden soll.
Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hat indes wenig Hoffnung, dass echte Kostentransparenz hergestellt werden wird. Er missbilligte „die zähe und mangelhafte Vorbereitung der Sitzung“, wie er in einem Brief an Bahnvorstand Rüdiger Grube schrieb. Er gehe deshalb nicht von einer endgültigen Klärung dieser Frage an diesem Freitag aus, sondern von einem Folgetermin des sogenannten Lenkungskreises in wenigen Tagen. Selbst ohne aktuelle Zahlen der Bahn gibt es ausreichend unangenehme Zahlen und Botschaften für Bahninfrastruktur- und Technikvorstand Volker Kefer. So gebe es einerseits die Strafanzeige der „Juristen zu Stuttgart 21“, weil die Bahn bereits lange vor der Finanzierungsvereinbarung im April 2009 von höheren Kosten als das jetzt vereinbarte maximale Budget von 4,526 Mrd. Euro gewusst haben soll, andererseits haben sich wegen Planungsfortschritt und Stresstest Mehrkosten von einigen hundert Millionen Euro ergeben. Damit wäre der sogenannte Risikofond (noch verbleibende 434 Millionen Euro bei derzeit angenommenen Projektkosten von 4,088 Mrd. Euro) fast vollständig abgeschmolzen. Die Bahn möchte deshalb einige Kosten wie den Rückbau des Gleisvorfelds, den Erhalt und die Einbindung der Gäubahn-Panorama-Bahn sowie die ordnungsgemäße Verpflanzung der Schloßgartenbäume statt das bloße Fällen als „nicht zum Projekt S 21 gehörend“ auslagern – quasi wie die sogenannten „Bad Banks“, die die Schrottpapiere der Mutterbanken bekamen, damit diese mit aufpolierten und unbelasteten Bilanzen weiterwirtschaften können.
Fest steht bereits seit der damaligen Lenkungskreissitzung vom 30.07.2010, dass sich die Kosten um 78 Millionen Euro erhöhen werden. Dies betrifft zusätzliche Signaltechnik für Regionalzüge und S-Bahnen, damit diese auch ohne ETCS fahren können (15 Mio. Bau- plus 2,5 Mio. Planungskosten), damit auch zusätzliche GSM-R-Funkverbindung zwischen Fahrzeugen und Stellwerk (20 Mio. Bau- plus 3,4 Mio. Planungskosten), Weichenverbindung nördlich von Feuerbach (2,3 Mio.) und zweites Gleis zum Flughafen samt zusätzlicher Röhre (Beseitigung des derzeit geplanten eingleisigen Engpasses zwischen Messe- und Filderbahnhof (Verbindung zwischen Filderbahn und Fildertunnel); 30 Mio. Bau- plus 5,1 Mio. Planungskosten). Der Lenkungskreis nahm jedoch vom Beschluss der Erhöhung des Projektrahmens auf 4,166 Mrd. Euro im letzten Moment wieder Abstand.
Probleme gibt es auch am sogenannten Grundwassermanagement. Auch der ehemalige Bauleiter Hany Azer bezifferte hier ein großes Risiko in seinem 121-Risiko-Papier. So müsse von einer wesentlich höheren Fördermenge ausgegangen werden, und zwar statt wie im Planfeststellungsbeschluss festgelegt 3 Mio. m³ bis zu 6,8 Mio m³, also mehr als das Doppelte. Insiderkreise gehen inzwischen sogar von einer Wassermenge von bis zu 17 Mio. m³ aus. Dieses Risiko wurde gemäß dem Risikopapier bahnseitig auf bis zu 80 Millionen Euro kalkuliert, das wäre ein Drittel des Gesamtaufwandes.
Nach Recherchen der Stuttgarter Zeitung (StZ) gibt es ein weiteres Problemfeld mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit, weil dessen Kosten auf veralteten Rechnungen aus dem Jahre 2005 basiert. Und zwar die notwendigen Umbauten im Stadtbahnbereich im Zusammenhang mit S 21, der Stadtbahntunnel in der Heilbronner Straße und die Haltestelle Staatsgalerie. In der Entwurfsplanung wurden die Kosten auf 160 Millionen Euro brutto beziffert, wobei die Bahn in der sogenannten Kreuzungsvereinbarung Einsparchancen optimistisch bewertet, weil der Anteil der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) am Tunnel in der Heilbronner Straße als „Einsparchance“ eingestuft wird, obwohl die Bahn 20% aus dem S 21-Topf bezahlt. Dieser Risikoposten wird von der StZ mit mindestens 40 Millionen Euro bewertet.
100 Millionen Euro werden benötigt, die Gäubahn für das S-Bahn-Notfallkonzept an den Cannstatter Fernbahntunnel anzubinden. Obwohl das Planfeststellungsverfahren für den PFA 1.3 noch nichtmal begonnen hat, werden rund 100 Millionen Euro Mehrkosten für den Filderabschnitt veranschlagt. Probleme gibt es auch beim Streit bisherige Wendlinger Kurve vs. Große Wendlinger Kurve. Hier fielen bei Realisierung der Großen Variante 70 Millionen Euro Mehrkosten an.
Die Bahntochter für die Infrastruktur, DB Netz AG, plant bisher mit der Sparvariante der Wendlinger Kurve, also die Anbindung aus Richtung Tübingen an die Neubaustrecke Flughafen – Ulm. Doch auch bahnintern ist diese Variante hochumstritten, denn nicht nur die SMA-Auditoren und das Land, sondern auch DB-Experten für Fernverkehr halten die Große Lösung für die vorgegebene Betriebsqualität für zwingend. Bahn-Infrastrukturvorstand Kefer bezeichnete die Große Kurve für „grundsätzlich machbar“, nach dem Stresstest ist diese Ausbauoption aber nicht erforderlich. Daher bezeichnete er im sogenannten Dialogforum „Direkt zu Stuttgart 21“ entsprechende Anfragen als „derzeit auch nicht zielführend, Angaben über Kosten [zu] machen“.
Noch im September 2009, also einige Zeit nach Unterzeichnung der Finanzierungsvereinbarung, sahen das Kefers Kollegen bei der Bahntochter für Fernverkehr, DB Fernverkehr AG (DB FV), noch ganz anders. Sie monierten ein „Risiko“ auf dem eingleisigen Streckenabschnitt, da der Zeitpuffer zwischen einem Regionalzug aus Tübingen und einem ICE nach München nur eine Minute betrage. Die Kurve aus Tübingen soll ebenerdig die Trasse Stuttgart – Ulm kreuzen und leitet erst danach auf das „richtige“ Gleis der Schnellbahnstrecke zum Flughafen über. Regionalverkehr und ICE könnten sich also fahrplantechnisch ins Gehege kommen, daraus folgt ein Verspätungsaufbau, der sich im Verlauf der Schnellbahntrasse fortsetzen würde. Fachleute von DB FV hätten bei DB Netz auf das Risiko hingewiesen – offensichtlich erfolglos, denn bisher plant die Bahn weiterhin mit der kleinen Lösung, obwohl sogar die alte schwarz-gelbe Regierung Entgegenkommen bei der Finanzierung der Großen Kurve gezeigt und das Verkehrsgutachterbüro SMA aus der Schweiz entsprechende Warnungen geäußert hatte. Dabei sollen sogar früher vorgesehene TGV-Verbindungen auf der Achse Stuttgart – Ulm aus Trassengründen keinen Platz mehr finden, und das obwohl die sogenannte Magistrale Paris – Bratislava/Budapest in der Vergangenheit immer als Hauptbegründung für S 21 und vor allen Dingen der NBS genannt wurde.
Im streng vertraulichen Arbeitspapier von 2008 (Schlussbemerkung: „Aufgrund der Brisanz der vorliegenden Resultate ist absolutes Stillschweigen erforderlich“) hatte sich die SMA für „Infrastrukturanpassungen“ in diesem Bereich ausgesprochen. Denn das Land hatte eine Nahverkehrskonzeption 2020 vorgelegt, nachdem in der Spitzenstunde auf der Tübinger Linie drei Züge pro Stunde vorgesehen seien. Bei der Präsentation des sogenannten Stresstests Ende Juli reduzierte sich die Zugbelegungszahl plötzlich auf Zwei, nach Bahnangaben habe man 2009 für ein größeres Kreuzungszeitfenster den Grundtakt auf zwei Linien festgelegt. Der SMA-Chef Werner Stohler hält die Planungen deshalb für zu „gering dimensioniert“. So seien in der jetzigen Fahrplanvariante zwar zwei Züge pro Stunde und Richtung zulässig, aber ein dritter bestellter Zug pro Spitzenstunde löse die Ursache für einen kreuzungsfreien Ausbau aus – wie sich auch entsprechend im Audit nachlesen lässt. Der Tübinger Oberbürgermeister und Projektkritiker Boris Palmer (Grüne) hält das Risiko zwischen DB FV und SMA für „realistisch“. Bei der Schlichtung habe er dem Vernehmen nach mit seinen Verspätungsbeispielen, die durch Wartezeiten an der Kreuzungsstelle entstehen können, sogar die Bahn beeindruckt.
Bei der Großen Wendlinger Kurve würden also wie schon gesagt Mehrkosten in Höhe von 70 Millionen Euro entstehen; nach Finanzierungsvereinbarung wird der Gleisanschluss aus dem Budget von S 21 bezahlt. Die derzeitige kleine Lösung soll etwa 35 Millionen Euro kosten. Nach Angaben des sogenannten S 21-Kommunikationsbüros gebe es Anzeichen dafür, dass man die Kosten „deutlich unterschreiten“ könne. Die Große Lösung sei jedoch vertraglich nicht vorgesehen; wer die wolle, müsse auch finanziell geradestehen.
Nach Projektsteuerer Drees & Sommer fallen 95% aller Mehrkosten ab 2013 an. All die hier genannten Maßnahmen würden dazu führen, dass für auch nur irgendwas kleines Unvorhergesehenes keinerlei Puffer mehr vorhanden sei. Nach Bahnangaben sieht die Lösung so aus, dass für die Finanzierung der Nachbesserungen die Projektpartner einfach miteinander sprechen und eine Vereinbarung treffen müssten.